Wenn man von Frankfurt nach Norden fährt, verlässt man bald den Sprachraum des „Medienhessischen“, des Dialekts und Regiolekts (= regional gefärbte „Umgangssprache“) des Rhein-Main-Gebiets, des allbekannten, relativ standardnahen und wissenschaftlich etwas langweiligen „Rheinfränkischen“. Würde man aus dem Zug oder dem Auto aussteigen, so könnte man schon in der Wetterau, dann selbst in den Vororten von Gießen, Marburg, Fulda und natürlich in den stadtferneren Landesteilen in das lebendige Sprachmuseum Hessen eintauchen. Es genügt, sich in eine Kneipe zu setzen und den Einheimischen Ü 60 zuzuhören. Sie sprechen untereinander ein Deutsch, das sich in den letzten 700 Jahren kaum verändert hat und in vielen Zügen weit über 1000 Jahre alt ist.
Nur darf man, will man dieses uralte Deutsch hören, die Einheimischen nicht ansprechen. Fremden gegenüber wird aus dem Dialekt (Platt) sofort in einen gut verständlichen standardnahen Regiolekt gewechselt. Weil das so ist und weil man in Coronazeiten sowieso vorsichtig mit persönlichen Kontakten sein soll und feinere Sprachbeobachtungen am Mund-Nasenschutz des Gegenübers scheitern würden, bietet sich ein virtueller Museumsbesuch an, ein Besuch im „Digitalen Hessischen Sprachatlas (DHSA)“.
Die Grundkarte des DHSA zeigt, wo die „spannenderen“ hessischen Dialekte, das Zentralhessische, das Ost- und das Nordhessische, liegen. Ganz im Norden ragt sogar als Zipfel das Niederdeutsche (West- und Ostfälisch) ins Bundesland Hessen. „Spannend“ sind diese Dialekte für Nichtfachleute, weil sie in keiner Weise ihren Erwartungen entsprechen und ohne Hilfen fast nicht verstehbar sind. Aufregend für Fachleute hingegen sind sie, weil sie in ihrer Archaik Einblicke in die Sprachgeschichte ermöglichen, die geeignet sind, scheinbar sicheres Wissen – „Handbuchwissen“ – umzustürzen. Was umgeschrieben werden muss, sind die Wege, die unser Deutsch bei der Entwicklung unserer heutigen hochdeutschen Schrift- und Standardsprache genommen hat, und die Rolle verschiedener Sprachregionen in diesem Zusammenhang. In diesem Beitrag will ich zu diesem Zweck „Sprachspuren“ sichten und Bausteine zu einer von Wissenschaftsmythen befreiten Sprachgeschichte des Deutschen zusammentragen.
Die erste Sprachspur weist sprachhistorisch nach Norden (und etwas auch nach Westen): „Er“, das Personalpronomen der 3. Person Singular (Einzahl), weist im Dialekt, wie ihn Georg Wenker 1880 erhoben hat, an manchen Orten und Teilräumen eine uralte Form auf, die wir aus dem geschriebenen Englischen kennen: <he>. [he:] hieß es 1880 (und heißt es bis heute) in dem kleinen gelblich eingefärbten Teilraum, in den das Westfälische und das Übergangsgebiet zum Ostfälischen nach Hessen hineinragen. Es handelt sich um den sprachlich altertümlichsten Flecken Hessens:
Als „abweichender Beleg“ ist es zudem für 1880 vielfach im Zentralhessischen dokumentiert (kleine gelbliche Kreise). Hier hört man es auch heute noch. Allerdings in der Regel nicht mehr als Normalform des Personalpronomens im Maskulinum (männliche Form) – die lautet im Zentralhessischen inzwischen „er“ –, sondern als Form der Heraushebung von Personen, als sprachliche Zeigegeste, sozusagen die sprachliche Form des „nackten Fingers“, mit dem man besser nicht auf Leute zeigen sollte: „Wer hat das kaputt gemacht?“ Antwort: „He!“. In dieser Verwendung hört man es auch im westlich angrenzenden Rheinland (Moselfränkischen), hier sogar in der Aussprache, die dem modernen Englischen entspricht: [hiː]. Ebenfalls weitgehend bewahrt haben das alte *he / hi, wenn auch mit variierender Vokalaussprache, das Osthessische und das Nordhessische, wo wir die Formen [hɛː] = <hä> und [haː] finden.
Die alten Formen werden heute zurückgedrängt. Aus dem Süden, dem rheinfränkischen Dialekt, und der Standardsprache dringen die modernen „er“-Formen vor: Mit Hilfe der Lautsprechersymbole in der Karte können in der Internetversion des DHSA Sprachaufnahmen der Abfragesätze aus dem Jahr 2014 abgespielt werden.1Zum Anhören der Sprachaufnahmen muss man sich bei regionalsprache.de anmelden. Der „Hessische Sprachatlas“ befindet sich im: SprachGIS > Kartensuche > Atlas > Digitaler Hessischer Sprachatlas. Wenn man die Farben der Lautsprechersymbole mit den Flächen- und Symbolfarben im Hintergrund vergleicht, sieht man an den Farbwechseln, wo sich der Dialekt zwischen 1880 und 2014 geändert hat: Im nord- und osthessischen Dialekt dringen die „er“-Formen (= rötliche Lautsprechersymbole) in das alte „hä“-Gebiet vor. Wo „he“ im Zentralhessischen 1880 noch als „abweichender Beleg“ dokumentiert war, wird heute als Normalform des Pronomens ebenfalls „er“ verwendet.
Sprachverwandtschaft
Wissenschaftlich spannend an den alten Formen ist ihre Bedeutung für die sprachhistorischen Verwandtschaftsverhältnisse, die Einordnung in die historische Typologie. Die nur auf Hessen beschränkten Sprachräume Zentral‑, Ost- und Nordhessisch werden traditionell einer Gruppe westgermanischer Varietäten der Mitte und des Südens, nämlich den „hochdeutschen“ Dialekten zugerechnet. Das sind die Dialekte, die bis heute der hochdeutschen Schriftsprache am ähnlichsten sind und aus denen unsere Schriftsprache hauptsächlich hervorgegangen ist. Dazu zählen, sortiert nach der Nähe zur Schriftsprache, völlig unstrittig Ostmitteldeutsch, Ostfränkisch, Rheinfränkisch, Bairisch und Alemannisch.2Traditionell wurden auch die „mittelfränkischen“ Dialekte zu den hochdeutschen gerechnet. Neuere Studien zeigen hingegen, dass es sich bei den moselfränkischen, ripuarischen und südniederfränkischen Dialekten um eine historisch eigenständige Gruppierung handelt, für die als Bezeichnung „(historisches) Westdeutsch“ oder „Rheinisch“ vorgeschlagen wurden, vgl. Lameli 2013 und Schmidt/Möller 2019.
Ursprünglich beruhte die Zuordnung auf dem Konsonantismus, nämlich der teilweisen oder vollständigen Durchführung der zweiten oder hochdeutschen Lautverschiebung. Für den Konsonantismus ist die Zuordnung der hessischen Dialekte im engeren Sinne zur Gruppe der „hochdeutschen“ Dialekte auch völlig korrekt: Es heißt hier bis heute ich, machen, das, es statt ik, maken, dat, et, allerdings auch nach eineinhalb tausend Jahren auch immer noch Pund und Appel statt Pfund und Apfel. Unser „He“ verweist aber auf eine ganz andere Gruppe historisch verwandter Sprachen und Dialekte, zu der das Englische (Angelsächsisch), das Friesische, das Niederdeutsche (Plattdeutsch) und ein Teil des Niederländischen gehören. Man nennt sie „nordseegermanisch“, weil die ursprünglichen Sprechergruppen rund um die Nordsee beheimatet waren und die heutigen Nachfolgevarietäten immer noch an die Nordsee grenzen.
Und wie weit reich(t)en sie nach Süden? Für die Formenlehre (Morphologie) schreibt Markey (1981, 37 f.): „The he / er-isogloss erects a major morphological distinction between Low and High German.“ He / er als Trennlinie für einen morphologischen Hauptunterschied zwischen dem Hoch- und dem Niederdeutschen und damit zwischen den beiden historischen Sprachgruppen? Ist unser „He“ tatsächlich ein nordseegermanisches Relikt3Nordseegermanische Reliktformen werden traditionell als „Ingwäonismen“ bezeichnet, weil man versucht hat, die Sprecher der nordseegermanischen Sprachgruppe mit den bei Tacitus erwähnten Ingwäonen zu identifizieren. in den hessischen Dialekten, das in der jüngeren Zeit von Süden (hochdeutsche Dialekte und Regionalsprachen) und von „Oben“ (Standardsprache) zurückgedrängt wird? Bei Einzelphänomenen werden angesichts der meist dünnen Überlieferungslage oft verschiedene historische Herleitungen diskutiert.4Für er / he vgl. ausführlich Lloyd / Lühr / Springer 1988 II, 1092–1109.
Ein Nordseegermanisches Relikt?
Entscheidend für die Einordnung als nordseegermanisches Merkmal ist nach Markey (1981, 38) der „spread of h- throughout the paradigm of the third person […] pronoun“. So hatten das Altenglische und das Altfriesische den typischen h-Anlaut nicht nur im Maskulinum (männliche Form) und im Nominativ (Wer-Fall) – im Altenglischen lautete die Form he im Altfriesischen he oder hi –, sondern auch im Femininum (weibliche Form) und Neutrum (sächliche Form) und dort auch in (fast) allen Kasus (Beugungsformen). Beispiele sind das Altenglische hio im Femininum des Nominativs und hit5Vgl. Online Etymology Dictionary, Eintrag zu he. im Neutrum des Nominativs sowie die Entsprechungen im Altfriesischen hiu bzw. hit, het. Das Mittelniederländische hatte ebenfalls ein bis heute erhaltenes Neutrum het.
Und die hessischen Dialekte? Auch hier haben die Pronomen der dritten Person im Femininum genau diese h-Anlaute, allerdings praktisch ausschließlich in der Herausstellungsform, der sprachlichen Zeigegeste: Auf die Frage „Wer war das?“ lautet die Antwort, wenn es beispielsweise um die Nachbarin geht, „Hes“ (Zentralhessisch einschließlich der Übergangsgebiete zum Moselfränkischen und Nordhessischen) oder „He“ bzw. „Ha“ (West- und Ostfälisch sowie moselfränkisch-zentralhessisches Übergangsgebiet). Diese h-Anlaute beim Femininum des Pronomens sind in den Karten des Wenker-Atlasses nicht erfasst, weil sich in Hessen in der Normalverwendung des Pronomens schon 1880 die Form „sie / se“ durchgesetzt hatte. Die archaischen Formen sind nur durch direkte Nachfragen bei den Gewährspersonen zu erheben und vereinzelt bei Erhebungen zum normalen Personalpronomen dokumentiert (Belegzettel des „Hessen-Nassauischen Wörterbuchs“ und frei formulierte Antworten im Projekt „Syntax hessischer Dialekte“6SyHD-Belege für Femininum „He, Ha“: Dornburg-Dorndorf (moselfränkisch-zentralhessisches Übergangsgebiet: Femininum „He“, Maskulinum: „Dä“); Breuna (westfälisch: Femininum und Maskulinum „He“); Oberweser-Heisebeck (ostfälisch: Femininum „Ha“, Maskulinum: „Hei“). Die Maskulinum-Belege sind den Wenker-Bögen (1880) entnommen.).
Die Rolle des Femininum
Wie sind diese Formen sprachhistorisch einzuordnen? Nun, die „Hes“-Form belegt in jedem Fall eindeutig eine alte Ausdehnung des pronominalen h-Anlauts über das Maskulinum hinaus. Allerdings spricht einiges dafür, dass es sich dabei ursprünglich um eine Neutrumsform gehandelt haben könnte, die dem altenglischen, altfriesischen und mittelniederländischen „het“ mit der Bedeutung ‚es‘ entsprach. „Hes“ wäre also sprachhistorisch wie „het“ zu erklären, wobei das auslautende „t“ im Zuge der Lautverschiebung durch „s“ ersetzt wurde.7Vgl. Braune / Reiffenstein 2004 § 283, Anm. 1b), wo als einziger „althochdeutscher“ Beleg die Neutrumsform „hiz“ im Leidener Williram aufgeführt ist (ursprünglich ostfränkisch, altniederfränkisch überarbeitet). Ursprünglich wäre demnach auf Mädchen und Frauen nach altem und zum Teil bis heute bewahrten Usus mit Neutrumsformen Bezug genommen worden. Im heutigen hessischen Dialekt wird mit „hes“ jedoch im Normalfall8Für Moischt bei Marburg berichtet Peter Preiß: „Man kann das neutrale Pronomen „hes“ auch für Nutztiere benutzen, insbesondere wenn man ein Verhalten hervorheben möchte, für das Huhn, das besonders große Eier legt oder den Zaun überfliegt, das Ferkel, das besonders schlau oder auch ängstlich ist, das Rind das nicht zu bändigen ist oder jemanden ständig lecken will.“ auf weibliche Personen referiert, als Pronomen für Sachen werden „es“-Formen verwendet. Das seltene und wissenschaftlich hochauffällige Femininum-„He“ hingegen ist nicht nur im modernen Dialekt ein Femininum, sondern auch historisch. Lautgeschichtlich ist eine andere Herleitung als aus nordseegermanisch *hiu oder *hio nicht plausibel. Durch die Abschwächung des Diphthongs (Doppelvokals) drohte allerdings ein Zusammenfall mit dem Pronomen des Maskulinums, also dem alten *he/ *hi in der Bedeutung ‚er‘. Einen solchen Zusammenfall des maskulinen und femininen Pronomens haben die nordseegermanischen Sprachen und Dialekte in der Regel jedoch vermieden. So hat das Niederländische kein Femininum mit h-Anlaut entwickelt, das Englische hat im Frühmittelenglischen die alten heo- und hio-Formen durch Formen mit s-Anlaut ersetzt, aus denen sich das heutige she entwickelte. Das moderne Friesische hat eine ganze Reihe von Ersatzformen entwickelt.9Markey 1981, Map 8. Das Hessische verhält sich hier ganz ähnlich, indem es das alte „He / Ha“ im Femininum fast überall durch „sie / se“ (Normalverwendung des Pronomens) oder durch „Hes“ (Heraushebungsform, sprachliche Zeigegeste) ersetzt hat.
Fassen wir zusammen: Die Ausdehnung der mit h-anlautenden Pronomen der 3. Person Singular auf das Femininum und Neutrum macht es sicher, dass es sich hierbei um ein nordseegermanisches Sprachelement in den hessischen Dialekten handelt. Die Vorfahren unserer heutigen mittel‑, ost- und nordhessischen Dialektsprecher lebten also im Sprachkontakt mit den Vorfahren der heutigen Sprecher des Englischen, Friesischen und des Niederländischen. Wie alt die Sprachspur ist, lässt sich genau sagen. Sie reicht vor das Jahr 453 n. Chr. zurück: Die Form „Hes“ hat die zweite oder hochdeutsche Lautverschiebung mitgemacht, die zwischen 453 und dem Beginn der schriftlichen Überlieferung deutscher Texte erfolgt ist.10453 ist das Todesjahr des Hunnenkönigs Attila, der in deutschen Texten lautverschoben als Etzel erscheint. Im Unterschied zu den nordseegermanischen Sprachen haben sich in Hessen bei den Flexionsformen (Genitiv, Dativ, Akkusativ) keine h-Anlaute erhalten (vgl. Birkenes & Fleischer 2019: 450). Als Personalpronomen im Normalgebrauch sind „He“ und „Hes“ auch im Nominativ stark rückläufig und werden allmählich (Maskulinum) oder ganz stark (Femininum) von den aus Süden (hochdeutsche Dialekte) und „Oben“ (Standardsprache) vordringenden „er“- bzw. „sie / se“-Formen abgelöst. Dass sie sich im Nominativ überhaupt erhalten haben und im lebendigen Sprachmuseum Hessen jederzeit leicht hörbar gemacht werden können, liegt an dem Funktionswechsel der uralten Formen: In den heutigen hessischen Dialekten dienen sie zur sprachlichen Herausstellung von Personen, als sprachliche Zeigegeste.
Literatur
- Birkenes, Magnus Breder / Jürg Fleischer (2019): Zentral‑, Nord- und Osthessisch. In: Herrgen, Joachim / Jürgen Erich Schmidt (Hg.): Sprache und Raum. Ein internationales Handbuch der Sprachvariation. Band 4: Deutsch. Unter Mitarbeit von Hanna Fischer und Brigitte Ganswindt. Berlin / Boston: De Gruyter Mouton, 435–478. https://doi.org/10.1515/9783110261295-014
- Braune, Wilhelm (152004): Althochdeutsche Grammatik I. Laut- und Formenlehre. Bearbeitet von Ingo Reiffenstein. Tübingen: Niemeyer.
- Lameli, Alfred (2013): Strukturen im Sprachraum. Analysen zur arealtypologischen Komplexität der Dialekte in Deutschland. Berlin / Boston: De Gruyter Mouton. https://doi.org/10.1515/9783110331394
- Lloyd, Albert L. / Rosemarie Lühr / Otto Springer (1988 ff.): Etymologisches Wörterbuch des Althochdeutschen. Bd. II. Unter Mitwirkung von Karen K. Purdy. Göttingen u. Zürich: Vandenhoeck & Ruprecht.
- Markey, Thomas L. (1981): Frisian. The Hague / Paris / New York: Mouton.
- Schmidt, Jürgen Erich / Robert Möller (2019): Historisches Westdeutsch / Rheinisch (Moselfränkisch, Ripuarisch, Südniederfränkisch). In: Herrgen, Joachim / Jürgen Erich (Hg.): Sprache und Raum. Ein internationales Handbuch der Sprachvariation. Band 4: Deutsch. Berlin / Boston: De Gruyter Mouton, 515–550. https://doi.org/10.1515/9783110261295-016
Diesen Beitrag zitieren als:
Schmidt, Jürgen-Erich. 2021. ‘he’ statt ‘er’: Nordseegermanisches im hessischen Sprachmuseum. Sprachspuren: Berichte aus dem Deutschen Sprachatlas 1(1). https://doi.org/10.57712/2021-01.