Im Neuen Testament wird in Matthäus 26, 6–12 erzählt, wie eine Frau die Jünger Jesu erzürnt, indem sie sich mit einem Ölgefäß Jesu Sitzplatz nähert und ihm das Öl kurzerhand über den Kopf schüttet. Jesus, die Ruhe selbst, bittet seine Jünger, der Frau nicht zu zürnen, und fügt hinzu:
(1) Neuhochdeutsch
Sie | hat | ein gutes Werk | an | mir | getan |
sie.NOM/AKK.SG/PL | hab.3SG | Werk.NOM/AKK | an | mir | tu.PTZ |
(2) Hochalemannisch
E gueti Taat | hät | si | ja | a | mer | taa |
Werk.NOM/AKK | hab.3SG | sie.NOM/AKK.SG/PL | ja | an | mir | tu.PTZ |
(3) Nordniederdeutsch
Se | hett | wat Goodes | an | mi | dan |
sie.NOM | hab.3SG | Gutes.NOM/AKK | an | mir | tu.PTZ |
(4) Mittelhochdeutsch
wan | ein gût werc | hât | si | geworcht | an | mir |
denn | Werk.NOM/AKK | hab.3SG/2PL | sie.NOM/AKK.SG/PL | wirk.PTZ | an | mir |
(5) Mittelenglisch
for | sche | hath | wrouyt | in | me | a good werk |
denn | sie.NOM | hab.3SG | wirk.PTZ | an | mir | Werk.NOM/DAT/AKK |
(6) Altenglisch
witodlice | god weorc | heo | worhte | on | me |
wahrlich | Werk.NOM/AKK | sie.NOM | wirk.1/3SG | an | mir |
Die Sätze (1) bis (6) in den aufgeführten Sprachen, Dialekten und Sprachstufen drücken bis auf minimale lexikalische Unterschiede dieselbe kognitive Vorstellung aus. Wir können sie stellvertretend für das Neuhochdeutsche mühelos wiedergeben: ‚Die Frau hat mit dem, was sie getan hat, gut gehandelt’. Dabei ist uns aller Wahrscheinlichkeit nach entgangen, dass der neuhochdeutsche Satz – neben dem hochalemannischen und dem mittelhochdeutschen – grammatisch mehrdeutig ist. Er kann der grammatischen Form nach so gelesen werden, dass das gute Werk von ‚ihr’ getan wird oder so, dass ‚sie’ von dem guten Werk getan wird. Wir haben ihn aber nicht missverstanden, sondern wie selbstverständlich und als wäre er eindeutig, richtig verstanden. Die nordniederdeutschen, mittel- und altenglischen Sätze sind grammatisch eindeutig. Die grammatische Ein- und Mehrdeutigkeit und unser Umgang damit lassen sich unter verschiedenen Gesichtspunkten betrachten.
Der grammatische Gesichtspunkt
Die Sätze unterscheiden sich untereinander in geringem Maße in den verwendeten Lexemen (z.B. ein gutes Werk vs. wat Goodes), aber insbesondere in den grammatischen Mitteln, die in den jeweiligen Sprach(stuf)en zur Verfügung stehen, um den Inhalt auszudrücken. Während beispielsweise die hochalemannischen und mittelhochdeutschen Pronomen si Formen sind, die in der jeweiligen Pronomendeklination sowohl den Nominativ als auch den Akkusativ Singular vertreten können, vertreten das nordniederdeutsche se oder das altenglische heo nur den Nominativ. Ähnliche morphologische Systemunterschiede zwischen den Sprach(stuf)en lassen sich auch in Bezug auf die Konjugationsformen des finiten Verbs und die jeweiligen Deklinationsformen für ‚das gute Werk’ ausmachen.
In den Grammatiken der beteiligten Sprach(stuf)en stehen grammatische Subjekte stets im Nominativ und kongruieren mit dem finiten Verb in Person und Numerus. Wie an den Glossen zu erkennen ist, erfüllt in allen parallelen Textstellen das Pronomen, mit dem auf die Frau referiert wird, diese Bedingung. Dadurch kann es als Subjekt identifiziert werden und dies macht die Frau zur Trägerin, zum Agens der durch das Verb ausgedrückten Handlung des ‚Ein-gutes-Werk-an-mir-Tuns’. Der jeweilige Ausdruck für das ‚gute Werk’ ist dann wiederum als das grammatische Objekt zu erkennen und damit als das durch die Handlung der Frau Betroffene, als Patiens zu interpretieren.
Wie die Glossen allerdings zeigen, können mehrere Ausdrücke jeweils mehrere morphologische Kategorien vertreten (Synkretismus). Dadurch werden von der richtigen abweichende Interpretationen möglich: So könnte im Neuhochdeutschen, Mittelhochdeutschen und Hochalemannischen das Pronomen sie bzw. si grammatisch auch das Akkusativobjekt (Wen? Sie.) und ein gutes Werk das Subjekt (Wer? Ein gutes Werk.) sein. Jeweils beide Formen weisen mit der 3. Person Singular zudem auch die Flexionsspezifikationen des finiten Verbs auf. Genau daraus ergibt sich die grammatische Mehrdeutigkeit des Satzes in diesen Sprachen: Beide Ausdrücke könnten Subjekt und Objekt sein.
Wenn man in vier exemplarischen Kapiteln des Neuen Testaments (Mt. 26–27, Joh. 18–19) alle Sätze untersucht, die zwischen einem Subjekt und einem (indirekten oder direkten) Objekt oder zwischen einem direkten und einem indirekten Objekt morphologisch mehrdeutig sein können, dann ergeben sich die folgenden Anteile an morphologisch eindeutigen und mehrdeutigen Satzgliedbeziehungen (hier und folgend vgl. Kasper 2020).
Es ist erkennbar, dass im Neuhochdeutschen und in den rezenten Dialekten Hochalemannisch und Nordniederdeutsch mehr Satzgliedbeziehungen mehrdeutig sind als in den älteren Sprachstufen und zwar grob 20 Prozent im Neuhochdeutschen bis zu 30 Prozent im Hochalemannischen.
Der sprachhistorische Gesichtspunkt
Traditionell wird die These vertreten, dass die Kasus- und Kongruenzmorphologie auf der einen und die syntaktische Reihenfolge der Satzglieder nicht unabhängig voneinander ausgeprägt sind (vgl. prominent Hawkins 1986: 40). In den germanischen und anderen Sprachen hat man beobachtet, dass historisch morphologische Synkretismen zunehmen, also verschiedene grammatische Kategorien durch immer weniger unterschiedene Flexionsformen ausgedrückt werden. Dieser Abbau von morphologischen Unterscheidungen soll historisch korrelieren mit einer Verfestigung der Satzgliedreihenfolge. Wo die morphologischen Signale nicht mehr zuverlässig Kasus und Kongruenzen anzeigen, soll eine syntaktifizierte Reihenfolge der Satzglieder als Signal für die Identifikation von syntaktischen Funktionen wie Subjekt und Objekt(en) verstanden werden. Ob zuerst die morphologischen Unterschiede verschwinden und dann die Satzgliedreihenfolge fest wird oder umgekehrt, dafür gibt es verschiedene Varianten der Ausgangsthese (vgl. Meillet 1922: 187 gegenüber Jespersen 1922: 361). Aber falls Morphologie und Reihenfolge in einem wie auch immer gearteten wechselseitigen Kompensationsverhältnis stehen, sollte man in Sprachen, die stark von Synkretismus betroffen sind, in denen Sätze also häufig morphologisch mehrdeutig sind, eine syntaktifizierte Satzgliedreihenfolge vermuten, etwa so wie im Neuenglischen. Dort sind syntaktische Funktionen immer an ihrer Stellung zueinander erkennbar. Das ist aber entgegen der alten These weder in den älteren Sprachstufen des Englischen noch in irgendeiner Sprachstufe des Deutschen der Fall, wie Abbildung 2 zeigt.
Selbst in den Sprach(stuf)en mit den meisten morphologisch mehrdeutigen Satzgliedbeziehungen gibt es keine syntaktifizierten Satzgliedreihenfolgen (mit der teilweisen Ausnahme des Mittelenglischen). Das gilt gleichermaßen für die morphologisch eindeutigen wie die morphologisch mehrdeutigen Satzgliedbeziehungen. Starke Zweifel an der Kompensationsthese sollte die Beobachtung säen, dass im Mittelenglischen, in dem einige syntaktische Konfigurationen tatsächlich schon in ihrer Reihenfolge fest geworden sind, die Kasus- und Kongruenzmorphologie seltener mehrdeutig ist als in allen untersuchten modernen Varietäten des Deutschen, diese aber keinerlei Anzeichen fester Satzgliedreihenfolgen aufweisen.
Der kognitiv-semantische Gesichtspunkt
Woher kommt also das mühelose Richtigverstehen auch mehrdeutiger Sätze? Zur Beantwortung dieser Frage ist eine Vorabklärung nötig. Das morphologische Formeninventar (und die Suppletivformen) einer Sprache sind in Äußerungen instruktive Signale für die Interpretation, das heißt für den Aufbau von kognitiven Vorstellungen. Äußerungen wie
Die Jünger-Ø seh-en die Frau-Ø
und
Die Jünger-Ø sieh-t die Frau-Ø
instruieren erstens dazu, sich etwas vorzustellen, sogar sich zweimal den gleichen Inhalt vorzustellen – ein Sehen-Ereignis zwischen den Jüngern und der Frau. Die Ausdrücke Jünger, s(i)eh- und Frau evozieren Vorstellungen von Gegenständen und Sachverhalten im weitesten Sinne. Aber die beiden Äußerungen instruieren zweitens auch dazu, sich diese Vorstellungsinhalte auf verschiedene Weisen vorzustellen: einmal mit den Jüngern als Sehern (Agens), einmal mit den Jüngern als Gesehenen (Patiens). Es sind die unterstrichenen Kasus- und Kongruenzmorpheme, die selbst keine Vorstellungsinhalte beisteuern, sondern dazu instruieren, die komplexe Ereignisvorstellung kognitiv auf bestimmte Weisen zu konstruieren. In Sprach(stuf)en oder Einzeläußerungen, in denen diese Signale nicht zur Verfügung stehen oder in denen sie von Synkretismus betroffen sind, instruieren sie nicht eindeutig und lassen mehrere Konstruktionen der komplexen Vorstellungen zu. Abbildung 1 zeigt, dass das im Deutschen mehr als jede vierte Satzgliedbeziehung betreffen kann. Daher ist es erstaunlich genug, dass es meistens nicht geschieht; meistens wird die Mehrdeutigkeit der Signale gar nicht bemerkt und der Vorstellungsaufbau trotzdem richtig vorgenommen – also so, wie die eindeutigen Bibelübersetzungen es anzeigen.
Nun ließe sich einwenden, dass in den Eingangsbeispielen niemand auf die Idee kommen würde, das ‚gute Werk’ als Subjekt und Agens und die Frau als Objekt und Patiens zu interpretieren und dass in der Regel der „Kontext“ klar macht, wie eine Äußerung zu interpretieren ist. Das mag oft zutreffen, aber keineswegs immer. Nicht immer ist der Kontext hilfreich und die richtige Interpretation gelingt dennoch mühelos. Auch die Plausibilität ist nicht immer ein entscheidender Faktor, denn erstens sind oft verschiedene Lesarten plausibel und zweitens wird auch über fantastische Welten, in denen „Unplausibles“ geschieht, gesprochen und das Mehrdeutige wird dennoch richtig verstanden. Auch in der Bibel geschehen Wunder. Die Frage ist also, warum die richtige Interpretation von Sätzen mit mehrdeutigen Satzgliedbeziehungen so mühelos gelingt, auch abseits von Kontext und Plausibilität. Gibt es auch innerhalb eines mehrdeutigen Satzes oder sogar innerhalb einer Satzgliedbeziehung Hinweise auf die korrekte Interpretation, so dass Kontext und Plausibilität nur zufällig die gleichen Interpretationen suggerieren?
Der außersprachliche Gesichtspunkt
Die erstaunlichen Verstehensfähigkeiten im Angesicht von morphologischen und Reihenfolgemehrdeutigkeiten lassen sich tatsächlich ohne Bezug auf Kontext und Plausibilität erklären, und zwar allein im Rückgriff auf die Vorstellungsinhalte der beteiligten Satzglieder. Abbildung 3 zeigt, dass beinahe alle mehrdeutigen Satzgliedbeziehungen richtig verstanden werden, wenn sie unter der folgenden Annahme interpretiert werden:
- Das Satzglied, das den höher belebten Gegenstand ausdrückt, ist das Subjekt (bei Subjekt–Objekt-Mehrdeutigkeiten) oder das indirekte Objekt (bei indirektes Objekt–direktes Objekt-Mehrdeutigkeiten).
- Bei gleicher Belebtheit ist der zuerst ausgedrückte Gegenstand das Subjekt (bei Subjekt–Objekt-Mehrdeutigkeiten) beziehungsweise indirekte Objekt (bei indirektes Objekt–direktes Objekt-Mehrdeutigkeiten)
Die Belege für eine Anordnung von Gegenstandsvorstellungen nach ihrem Belebtheitsgrad sind in den Sprachen der Welt mittlerweile Legion. Die hier angelegte Skala ist die folgende:
Selbst > verwandt > human > belebt > unbelebt > Ort > abstrakt > Masse
Unter der genannten Interpretationsannahme werden nicht zuletzt die mehrdeutigen Varianten des Ausgangsbeispiels aus Matthäus 26,6–12 richtig interpretiert.
Fazit und Ausblick
Wir verstehen Äußerungen, sogar geschriebene ohne gemeinsame Kommunikationssituation, meist mühelos richtig. Wir mögen überrascht sein, wenn wir im Nachhinein darauf hingewiesen werden, dass sie mehrdeutig gewesen sind, dass wir sie also auch anders – und falsch – hätten interpretieren können. Dass wir das in den allermeisten Fällen nicht getan haben werden, wird oft intuitiv mit Plausibilitätserwägungen und Kontextwissen erklärt. Die oben skizzierte Studie illustriert, dass wir auf diese Informationstypen gar nicht angewiesen sind und mehrdeutige Sätze sprach(stufen)übergreifend mithilfe von relativen Eigenschaften der beteiligten Gegenstandsvorstellungen richtig verstehen können: relative Belebtheit und relative (nicht syntaktifizierte) Reihenfolge. Diese Diagnose kann auch Szenarien des morphologischen (Synkretismus) und syntaktischen (Syntaktifizierung der Reihenfolge) Wandels informieren, denn sie zeigt, dass es keinen direkten und einfachen kausalen Zusammenhang zwischen ihnen zu geben braucht. Es sind Sprachzustände möglich, in denen weder die Kasus- und Kongruenzmorphologie noch eine syntaktifizierte Satzgliedreihenfolge zuverlässige instruktive Signale zur Konstruktion komplexer Vorstellungen liefern und stattdessen Belebtheit und eine freie Satzgliedreihenfolge für die Interpretation herangezogen werden können. Um die Wirksamkeit dieser beiden Informationstypen zu verstehen, wäre eine Erörterung darüber nötig, welche Rollen Belebtheit und die zeitliche Organisation von Ereignissen in der Interpretation auch nichtsprachlicher Ereignisse spielen. Ein solcher humanökologischer oder anthropologischer Gesichtspunkt wird in Kasper (2020) erörtert.
Quellen
- Neuhochdeutsch: Die Bibel. Nach der Übersetzung Martin Luthers. Mit Apokryphen. [Bibeltext in der revidierten Fassung von 1984.] Durchges. Ausg. in neuer Rechtschreibung. Hrsg. von der Evangelischen Kirche in Deutschland. Stuttgart 2001: Dt. Bibelgesellschaft. [identischer Text]
- Hochalemannisch: S Nöi Teschtamänt Züritüütsch us em Griechische übersetzt vom Emil Weber. Zürich 1997: Jordanverlag.
- Nordniederdeutsch: Johannes Jessen: Dat Ole un dat Nie Testament in unse Moderspraak herausgegeben von Heinrich Kröger, Heiko Frese und Peter Voigt. 9./11. Auflage. Göttingen 2006: Vandenhoeck & Ruprecht. [11937 (altes Testament), 11933 (neues Testament)]
- Frühneuhochdeutsch: Biblia: Das ist Die gantze Heilige Schrifft/ Deudsch/ Auffs new zugericht. D. Mart. Luth. Begnadet mit Kurfürstlicher zu Sachsen Freiheit. Gedruckt zu Wittenberg/ Durch Hans Lufft. MDXLV. [Faksimile Dt. Bibelstiftung Stuttgart. 2. Auflage 1980]
- Mittelhochdeutsch: Des Matthias von Beheim Evangelienbuch in mitteldeutscher Sprache. 1343. Herausgegeben von Reinhold Bechstein. Leipzig 1867: Weigel.
- Althochdeutsch: Die lateinisch-althochdeutsche Tatianbilingue Stiftsbibliothek St. Gallen Cod. 56. Unter Mitarbeit von Elisabeth DeFelip Jaud, hrsg. von Achim Masser. Göttingen 1994: Vandenhoeck & Ruprecht.
- Mittelenglisch: The Holy Bible, containing the Old and New Testaments, with the apocryphal books, in the earliest English versions made from the Latin Vulgate by John Wycliffe and his followers; edited by the Rev. Josiah Forshall and Sir Frederic Madden. Volume I, Volume IV. Oxford 1850: Oxford University Press.
- Altenglisch: The Old English version of the Gospels. Edited by R. M. Liuzza. Volume one: text and introduction. Oxford 1994: Oxford University Press. Volume two: Notes and glossary. Oxford 2000: Oxford University Press.
Literatur
- Hawkins, John A. (1986): A comparative typology of English and German. Unifying the contrasts. London/Sydney: Croom Helm.
- Jespersen, Otto (1922): Language. Its nature, development and origin. London: Allen & Unwin/New York: Hold and Company. https://archive.org/
- Kasper, Simon (2020): Der Mensch und seine Grammatik. Eine historische Korpusstudie in anthropologischer Absicht. Tübingen: Narr. https://www.narr.de/der-mensch-und-seine-grammatik-18429/
- Meillet, Antoine (1922): Caractères généraux des Langues Germaniques. Deuxième Édition, revue, corrigée et augmentée. Paris: Librairie Hachette. https://archive.org/
Diesen Beitrag zitieren als:
Kasper, Simon. 2021. “Whodunnit?” Überraschendes zu unserem Umgang mit Mehrdeutigkeit. Sprachspuren: Berichte aus dem Deutschen Sprachatlas 1(5). https://doi.org/10.57712/2021-05.