Dialekte, Jugendsprache, Sprachwandel, Anglizismen, Mehrsprachigkeit – sprachliche Variation und Sprachkontakt sind allgegenwärtig. Auch die Lebenswelt von Schülerinnen und Schülern ist geprägt von sprachlicher Vielfalt. Wie kann diese Vielfalt bestmöglich in der Schule eingebunden werden? Für den Deutschunterricht ergibt sich die Aufgabe, Wissen über sprachliche Variation zu vermitteln und zur Sprachreflexion anzuleiten. Doch welche Rolle spielen Dialekt und Mehrsprachigkeit an unseren Schulen? Eine Umfrage unter Deutschlehrkräften zeigt, dass bei der Vermittlung dieser Themen noch viel Luft nach oben ist.
Innere und äußere Mehrsprachigkeit
Für die schulische Vermittlung von intra- und interlingualer Variation wurde u.a. von Helmut Henne (1986, S. 220) das Konzept der inneren und äußeren Mehrsprachigkeit vorgeschlagen. Die innere Mehrsprachigkeit bezieht sich auf die intralinguale Variabilität von Sprache und meint die Fähigkeit einer Person, mehrere Varietäten (z.B. Dialekte) oder Register derselben Sprache zu verstehen, zu sprechen und zu gebrauchen. Im Gegensatz dazu bezieht sich die äußere (oder auch sprachenübergreifende) Mehrsprachigkeit auf die interlinguale Variabilität von Sprache und beschreibt die Fähigkeit einer Person, mehrere Sprachen zu verstehen, zu sprechen und mit ihnen zu interagieren (vgl. Ossner 2008, S. 55ff.). Aufgabe des Deutschunterrichts ist es deshalb, Schüler*innen dazu zu befähigen, verschiedene Varietäten und Register kompetent umsetzen sowie die Wahl der Sprache reflektiert und kritisch vornehmen zu können.
Bildungspolitische Rahmenbedingungen
Wer sich für schulische Themen interessiert, muss die curricularen und bildungspolitischen Vorgaben und Rahmenbedingungen beachten. Die Kerncurricula für das Land Hessen basieren auf den Kompetenzzielen aus den Bildungsstandards der Kultusministerkonferenz (KMK) in der Bundesrepublik Deutschland. Im hessischen Kerncurriculum umfasst der Kompetenzbereich „Sprache und Sprachgebrauch untersuchen und reflektieren“ (HKM 2021, S. 21) die schriftliche und mündliche Kommunikation ebenso wie die Auseinandersetzung mit Sprachvarietäten, Sprachwandel und der Funktion von Sprache. Am Ende der Sekundarstufe I sollen die Schüler*innen in der Lage sein, sowohl das Sprachsystem adäquat zu analysieren als auch Sprachnormen kritisch zu betrachten (vgl. HKM 2021, S. 25f.). In der Sekundarstufe II sollen unter anderem die individuelle Mehrsprachigkeit und kommunikative und soziale Interaktionen zentrale Komponenten des Unterrichts sein. Anschließend wird zudem die innere und in Ansätzen auch die äußere Mehrsprachigkeit thematisiert: Es gilt, die „Spracherfahrung in unterschiedlichen kommunikativen Kontexten (sprachliche Varietäten zum Beispiel Soziolekte, Dialekte, Jugendsprache)“ zu analysieren (HKM 2022, S. 31).
Es wird somit deutlich, dass die curricularen Vorgaben die schulische Thematisierung von sprachlicher Variation vorsehen. Dabei erweist sich das Konzept der inneren und äußeren Mehrsprachigkeit als hilfreich für die didaktische Aufbereitung. Das Ziel ist, die Schüler*innen zu kompetenten Sprecher*innen zu bilden.
Umfrage: Dialekt und Mehrsprachigkeit in hessischen Schulen
Wie steht es um die Umsetzung dieses Ziels in den hessischen Schulen? Diese Frage stand im Mittelpunkt einer Umfrage, die im September 2023 mithilfe eines Online-Fragebogens an hessischen Schulen durchgeführt wurde. Teilgenommen haben insgesamt 81 Deutsch-Lehrkräfte aus ganz Hessen. In der vom Hessischen Kultusministerium befürworteten Befragung wurden zunächst die Kenntnisse der Lehrkräfte zum Thema innere und äußere Mehrsprachigkeit erfasst. Anschließend wurde die persönliche Einschätzung zur Wichtigkeit der Thematik als Unterrichtsgegenstand sowie deren Umfang im eigenen Unterricht erhoben. Außerdem stimmten die Lehrkräfte darüber ab, welche Themen besonders relevant für den Deutschunterricht sind.
Deutschlehrkräfte in Hessen: einsprachig und dialektfern
Rund 88% der befragten Lehrkräfte geben Deutsch als einzige Erstsprache an. Daneben finden sich noch Französisch, Polnisch und Türkisch als weitere Erstsprachen (7% der Befragten). 5% weisen auf die eigene innere Mehrsprachigkeit und das Beherrschen von Standard und einem Dialekt des Deutschen hin. Somit zeigt sich, dass die befragten Deutschlehrkräfte stark monolingual sind. Im Hinblick auf die mehrsprachigen und stark heterogenen Lebensrealitäten der Schüler*innen – im Durchschnitt hatten 2022 ca. 40 % der Schüler*innen unter 20 Jahren einen Migrationshintergrund (vgl. Statistisches Bundesamt 2023) – ergibt dies eine eklatante Differenz.
Insgesamt 58 % der Befragten geben an, nie oder selten einen deutschen Dialekt zu sprechen. Nur 28 % sprechen gelegentlich im Dialekt, während 14 % die Angabe machen, häufig Dialekt zu nutzen. Die Antwort immer wird von keiner der befragten Personen ausgewählt. Es wird also deutlich, dass Lehrkräfte sehr unterschiedliche Voraussetzungen in Bezug auf regionale Sprachvariation im Unterricht mitbringen. Das Spektrum der Vertrautheit mit dem Dialekt reicht von einer häufigen Nutzung bis zu einer gänzlich fehlenden aktiven Kompetenz.
Kenntnisse der Lehrkräfte zum Thema Dialekt und Mehrsprachigkeit
Trotz dieser unterschiedlichen Voraussetzungen in Bezug auf die eigene Sprach- und Dialektkompetenz schätzt der überwiegende Teil der Lehrkräfte die eigenen Kenntnisse zu innerer und äußerer Mehrsprachigkeit als mittelhoch ein und tendiert zum scheinbar neutralen Mittelbereich (jeweils rund 40 %, siehe Abbildung 1&2). Nur ein geringer Anteil wertet die eigenen Kenntnisse in beiden Themenfeldern als sehr gering oder sehr hoch (zwischen 6 und 10 %).
Abbildung 1: Antworten der Lehrkräfte zu “Wie hoch sind Ihre Kenntnisse zu Dialekt und Mehrsprachigkeit?” (Anzahl: 81)
Einschätzung: Relevanz der Themen Dialekt und Mehrsprachigkeit
Im Gegensatz dazu ergeben sich in Bezug auf die Wichtigkeit der inneren und äußeren Mehrsprachigkeit relevante Unterschiede in der Einschätzung durch die Lehrkräfte. Während die Wichtigkeit des Themas Dialekt eher im geringen Bereich eingeschätzt wird (rund 68 %, siehe Abbildung 3), wird die Wichtigkeit von Mehrsprachigkeit im schulischen Kontext als überwiegend hoch bewertet (rund 51 %, siehe Abbildung 4).
Abbildung 2: Antworten der Lehrkräfte zu “Wie hoch schätzen Sie die Bedeutung von Dialekt und Mehrsprachigkeit im Deutschunterricht ein?” (Anzahl: 81)
Es zeigt sich, dass die Lehrkräfte ihre Kenntnisse zu innerer und äußerer Mehrsprachigkeit zwar ähnlich einschätzen, die zugeschriebene Bedeutung jedoch voneinander abweicht. Auch wird deutlich, dass möglicherweise fehlende Kenntnisse zur Mehrsprachigkeit kein Hindernis für eine hohe Bewertung ihrer Bedeutung sind. Im Gegensatz dazu ergibt sich jedoch aus den höheren Kenntnissen zum Thema Dialekt keine höhere Relevanzeinschätzung für den Deutschunterricht. Dialekt wird als wenig relevant erachtet, obwohl die regionale Sprache einen zentralen Teil der regionalen Geschichte und Kultur Hessens und der individuellen Identitätsbildung ausmacht. Eine stärkere Sensibilisierung der Lehrkräfte erscheint hier mehr als notwendig.
Praxis: In welchem Umfang wird zu den Themen unterrichtet?
Die Unterschiede in der Relevanzeinschätzung spiegeln sich auch darin wider, dass der Unterrichtsumfang zum Thema Mehrsprachigkeit höher ist als jener zu den Dialekten. Während nur 7 % der Lehrkräfte angeben, innere Mehrsprachigkeit mehr als 2 Wochen pro Schuljahr im Unterricht zu thematisieren (siehe Abbildung 5), geben dies zur äußeren Mehrsprachigkeit rund 23 % der Befragten an (siehe Abbildung 6). Trotz des erkennbaren Interesses und der wahrgenommenen Bedeutung von Mehrsprachigkeit im Bildungsbereich zeigt sich also, dass das Thema im Schulalltag dennoch wenig Raum findet. Mehr als die Hälfte der Lehrkräfte (59 %) berichtet, dass sie das Thema Mehrsprachigkeit nie oder weniger als eine Woche pro Schuljahr behandeln. Noch drastischer fällt dieses Ergebnis bei der Frage nach dem Thema Dialekt aus: Über dreiviertel der Lehrkräfte geben an, das Thema weniger als 1 Woche oder nie zu unterrichten.
Abbildung 3: Antworten der Lehrkräfte zu “In welchem Umfang unterrichten Sie pro Schuljahr zu Dialekt und Mehrsprachigkeit im Deutschunterricht?” (Anzahl: 81)
Welche Themen finden die Lehrkräfte wichtig?
Um die von den Lehrkräften gewünschten thematischen Schwerpunkte genauer zu erfassen, wurden die Lehrkräfte aufgefordert, aus möglichen Unterrichtsthemen jene auszuwählen, die sie als unterrichtenswert erachten. Die höchsten Zustimmungswerte für den Dialekt erhalten:
- Anpassung der Sprechweise an die Kommunikationssituation (62 %)
- Entstehung von Dialekt und Hochdeutsch (60 %)
- Sprachwandel als Sprachverfall? (56%)
Themen zur Sprachbewertung und Sprachideologie (z.B. Abwertung von Dialekten, Vorstellungen eines einheitlichen Hochdeutschs) finden die Lehrkräfte wenig relevant (nur 21 % bzw. 15 %). Es wäre an dieser Stelle interessant zu untersuchen, wie groß das Bewusstsein der Lehrkräfte für diese Sprachideologien ist oder ob sie die damit einhergehenden Bewertungen unbewusst selbst vertreten. Außerdem bleibt offen, ob ein Zusammenhang zwischen der unterrichteten Jahrgangsstufe und der Einschätzung der Relevanz der verschiedenen Themen vorliegt. Deshalb erscheint es wichtig, die Lehrkräfte in diesem Bereich vermehrt zu schulen und dadurch die Aufmerksamkeit zu erhöhen.
In Bezug auf Mehrsprachigkeit finden Themen, die sich mit der Systematizität sprachkontaktinduzierter Variation, der Entstehung sowie den Konsequenzen von Sprachkontakt und deren verschiedenen Typen befassen, wenig Beachtung. Themen, die Veränderungen der deutschen Standardsprache thematisieren, erhalten hingegen großen Zuspruch:
- Integration von Fremdwörtern ins Hochdeutsche (79 %)
- Mehrsprachigkeit als Gewinn für die Lernenden (73 %)
Abschließend konnten die Lehrkräfte zu weiteren unterrichtenswerten Sprachthemen im Deutschunterricht abstimmen. Die meiste Zustimmung fanden:
- Mündlichkeit und Schriftlichkeit (94 %)
- Jugendsprache (77 %).
Wider Erwarten stufen nur knapp mehr als die Hälfte der Befragten Fachsprache(n) und Bildungssprache als relevantes Thema für den Deutschunterricht ein. Diese Zahlen stehen im Kontrast zur Relevanz dieser Themen für den Bildungserfolg der (mehrsprachigen) Schüler*innen, wie die fachdidaktische Forschung bereits gezeigt hat:
„Entscheidend für den Schulerfolg sind die Fortschritte im schul- und bildungssprachlichen Register der Zielsprache“
(Feilke 2012, S. 8)
Bedarf: Aus‑, Weiter- und Fortbildungen zu Sprachvariationsthemen
Insgesamt deuten die Ergebnisse auf einen Bedarf an bildungspolitischen und fachdidaktischen Maßnahmen hin, um Dialekt und Mehrsprachigkeit angemessen im Unterricht zu berücksichtigen und die vorhandenen Interessen und Lebensrealitäten der Schüler*innen und Lehrkräfte anzuerkennen. Nur so wird es gelingen, „die von Kindern mitgebrachten Sprachen, Dialekte, Regiolekte, Soziolekte in ihrem Eigenwert [zu] erkennen und an[zu]erkennen“ (Wandruszka 1979, S. 18). Die Lehrkraft „muß [ihre] Schüler von da aus in eine andersgeartete Bildungssprache einführen, muß ihnen das Bewußtsein ihrer Mehrsprachigkeit geben“ (Wandruszka 1979, S. 18). Erst auf dieser Grundlage ist die Entwicklung der erforderlichen sprachbezogenen Kompetenzen und eines kritischen Reflexionsvermögens möglich.
Schulportal: Sprachvariation@Schule
Dieser zentralen Aufgabe hat sich das Projekt Sprachvariation@Schule (siehe Abbildung 7) angenommen. Die Plattform Sprachvariation@Schule wurde unter der Leitung von Prof. Dr. Hanna Fischer am Forschungszentrums Deutscher Sprachatlas entwickelt und ist ein Kooperationsprojekt der Internationale Gesellschaft für Dialektologie des Deutschen (IGDD) und der Gesellschaft für Germanistische Sprachgeschichte (GGSG) sowie des Zentrums für Lehrkräftebildung der Philipps-Universität Marburg. Die Webseite führt Informationen und Materialien für die schulische Thematisierung von Sprachvariation zusammen. Ziel ist es, aktuelle Forschungsergebnisse der Sprachvariationsforschung für Lehrpersonen in Schulen zur Verfügung zu stellen.
Abbildung 4: Plattform Sprachvariation@Schule unter https://schule.dsa.info
Den Kernbereich der Plattform bildet ein Repositorium für Unterrichtsmaterialien, auf das kostenfrei zugegriffen werden kann. Die Materialien unterliegen einer fachwissenschaftlichen und fachdidaktischen Qualitätskontrolle. Sie nutzen Karten, Bilder, Sprachaufnahmen, Texte und andere Darstellungen aus digitalen Angeboten (z.B. Online-Sprachatlanten und Wörterbücher) und geben dadurch Impulse für eine materialgestützte Bearbeitung der Themenstellungen im Klassenzimmer. Des Weiteren ist eine verschlagwortete Bibliografie verfügbar, die Lehrbucheinheiten in Hinblick auf Themen, Jahrgangsstufen und andere Kriterien klassifiziert und diese über ein Interface filterbar macht. Zudem wurde eine themenbezogene Lehr- und Lernmittelsammlung eingerichtet, die am Recherche- und Dokumentationszentrum des Forschungszentrums Deutscher Sprachatlas angesiedelt ist. Die Rubrik „Sprachvariation Online“ informiert über weitere variationslinguistische Online-Angebote für Lehrkräfte. Das Portal wird laufend aktualisiert und erweitert. Über Workshops und digitale Fortbildungen werden Interessierte aus Schule und Wissenschaft gezielt angesprochen.
Literaturverzeichnis
Feilke, Helmuth (2012): Bildungssprachliche Kompetenzen – fördern und entwickeln. In: Praxis Deutsch 233. Seelze: Friedrich Verlag, S. 4–13.
Helmut, Henne (1986): Jugend und ihre Sprache. Darstellung, Materialien, Kritik. Berlin/New York: De Gruyter.
Hessisches Kultusministerium (HKM) (2021): Das neue Kerncurriculum für Hessen Sekundarstufe I – Gymnasium (KC). Deutsch. Wiesbaden, abrufbar unter: https://kultusministerium.hessen.de/sites/kultusministerium.hessen.de/files/2021–06/kerncurriculum_deutsch_gymnasium.pdf [letzter Zugriff am 20.10.2023].
Hessisches Kultusministerium (HKM) (2022): Kerncurriculum gymnasiale Oberstufe (KCGO). Deutsch. Wiesbaden, abrufbar unter: https://kultusministerium.hessen.de/sites/kultusministerium.hessen.de/files/2022–09/kcgo_deutsch_stand_august_2022.pdf [letzter Zugriff am 20.10.2023].
Ossner, Jakob (2008): Sprachdidaktik Deutsch. Eine Einführung für Studierende. 2., überarbeitete Auflage. Paderborn: Ferdinand Schöningh.
Statistisches Bundesamt (2023): Mikrozensus – Bevölkerung nach Migrationshintergrund, Erstergebnisse 2022. Unter: <https://www.destatis.de/DE/The-men/Gesellschaft-Umwelt/Bevoelkerung/Migration-Integration/Publikati-onen/Downloads-Migration/statistischer-bericht-migrationshintergrund-erst-2010220227005.html> (zuletzt aufgerufen am 13.05.2024).
Wandruszka, Mario (1979): Die Mehrsprachigkeit des Menschen. München: R. Piper.
Diesen Beitrag zitieren als:
Fischer, Hanna, Krause, Mareike & Wissenbach, Ella. 2024. Sprachvariation – ein Thema für die Schule? Ergebnisse einer Umfrage unter hessischen Deutschlehrkräften. In: Sprachspuren: Berichte aus dem Deutschen Sprachatlas 4(6). https://doi.org/10.57712/2024-06