Wo kommt die/der denn her? Vom Nutzen von Dialektkarten für das Speaker Profiling

Sie fragen sich vielleicht auch immer einmal wieder, aus welcher Region in Deutsch­land eine Ihnen unbekann­te Person, die Sie beispiels­wei­se im Fernver­kehrs­zug haben sprechen hören, wohl stammen könnte. Oder Sie haben eine Idee, woher die Person stammt, sind sich aber nicht sicher und würden Ihre Idee gern überprü­fen. Bei der Bestim­mung der Herkunft einer unbekann­ten Person handelt es sich zwar nicht um eine Kerndis­zi­plin innerhalb der Sprach­wis­sen­schaft, sie bildet aber einen mitunter wichtigen Teil der anwen­dungs­be­zo­ge­nen „foren­si­schen Sprecher­er­ken­nung“ bzw., wenn es vor allem um lautsprach­li­che Aspekte geht, der „foren­si­schen Phonetik“. 

Und Forsche­rin­nen und Forscher sowie Gutach­te­rin­nen und Gutachter, die in diesen Bereichen tätig sind, greifen wesent­lich auf sprach­wis­sen­schaft­li­che Erkennt­nis­se, im vorlie­gen­den Fall auf Erkennt­nis­se der Dialek­to­lo­gie und/oder der Regio­nal­spra­chen­for­schung zurück. Das hat einen Grund: Für das im Titel genannte Speaker Profiling, also für die Erstel­lung des Stimmen­pro­fils eines unbekann­ten Sprechers oder einer unbekann­ten Spreche­rin, spielen nach den Angaben in einschlä­gi­gen Publi­ka­tio­nen dialek­ta­le Merkmale eine wichtige Rolle (vgl. Künzel 1987, Köster 2001, Köster et al. 2012). Solche Merkmale erlauben es, die betref­fen­de Person einer Gruppe von Spreche­rin­nen und Sprechern mehr oder weniger scharf zuzuord­nen, und zwar Spreche­rin­nen und Sprechern, die ihre Spracherwerbs- bzw. ihre „sog. Sprach­prä­ge­pha­se, die ungefähr der Zeit des Schul­be­suchs (bis ca. 18 Jahre) entspricht“ (Künzel 1987, 79), in einer bestimm­ten Region des deutschen Sprach­raums verbracht haben.

Eine Beispielaufnahme: Ermittlung dialektaler Merkmale

Im vorlie­gen­den Beitrag werde ich anhand eines ausge­wähl­ten Beispiels demons­trie­ren, wie mit Hilfe von (alten) Dialekt­kar­ten die mögliche Herkunft einer Spreche­rin oder eines Sprechers, deren Sprache dialektal „gefärbt“ ist, einge­grenzt werden kann. Bei dem Beispiel handelt es sich um die Aufnahme eines Inter­views, die auf der Plattform Youtube öffentlich zugänglich ist. Gefunden haben diese Aufnahme Teilneh­me­rin­nen und Teilneh­mer eines Seminars zur foren­si­schen Phonetik, das ich seit einigen Semestern regel­mä­ßig an der Univer­si­tät Marburg anbiete. Darin werden die in Gruppen einge­teil­ten Teilneh­me­rin­nen und Teilneh­mer in einem abschlie­ßen­den Wettbe­werb aufge­for­dert, einer jeweils anderen Gruppe eine Aufgabe zur Ermitt­lung der Herkunft einer unbekann­ten Person anhand einer Aufnahme zu stellen. Die einzigen Vorgaben dabei sind, (1) dass die unbekann­te Person aus Deutsch­land stammen soll und (2) dass in der Aufnahme regio­nal­sprach­li­che Merkmale zu hören sein sollen. Bei der für den Wettbe­werb ausge­wähl­ten Passage handelt es sich um die Abschnit­te 0:03–0:11 Sek., 0:21–0:27 Sek. und 0:30–0:58 Sek. des oben verknüpf­ten Inter­views (die Gesprächs­bei­trä­ge des Inter­view­ers sowie Passagen, in denen Hinweise auf die Herkunft des Sprechers enthalten sind, wurden für den Wettbe­werb heraus­ge­schnit­ten). Der Sprecher äußert in diesen Passagen Folgendes – in der Tabelle werden jeweils eine ortho­gra­phi­sche (kursiv) und eine litera­ri­sche Transkrip­ti­on (blau hinter­legt) wiedergegeben:

Ja ich weiß nicht, aber die Mannschaf­ten sind gut dieses Jahr.
Jo isch waaß net, ower die Mannschaf­te sai gut dis Joar.
Aber ich rechne mir wirklich Chancen auf den Turnier­sieg aus,
Ower isch rachel mir wirklisch Chance uf de Turnier­si­isch aus,
also wir sind eine gute Truppe hier stehen
also mir sin’n gut Trupp häi stii
und äh das machen wir dieses Jahr wieder.
un äh dat mache mir dies Joar wirrer.
Gucken wir mal, dass wir auch was reißen hier.
Gucke mir mo, dat mir au wat raiße häi.
Ei ja, wir haben hier so einen dabei, das ist so ein […]
Ai jo mir hu hier so ain dabei, dat is so e […]
Und der hat uns […] angemel­det, wir waren voriges Jahr schon dabei. Und […]
Un der hat uns […] uugemeld, mir woarn fiirs Joar schoo dabai. Un […]
Aber dieses Jahr sind wir stärker, deswegen werden wir dieses Jahr auch,
Ober dis Joar sai mir stärker, deswesche wern mir dis Joar aach,
denke ich, im Finale ankommen.
denk isch, im Finale uukomme.
Nein, wir sind nur Hobby­ki­cker, da sind Rennfah­rer dabei,
Naa, mir sai nur Hobby­ki­cker, do sai Rennfah­rer dabai,
da sind Eisho­ckey­spie­ler dabei, Fußball­spie­ler dabei,
do sai Eisho­ckey­spie­ler dabai, Fußball­spie­ler dabai,
wir sind – eine Multikulti-Truppe.
mir sai – n Multikulti-Truppe.
Ja, ich denke schon, ich denke schon, das werden wir packen.
Jo, isch denke schuu, isch denke schuu, dat wern mir packe.

Wenn man sich das Interview anhört, fällt auf, dass die Sprache des Inter­view­ten stark dialektal geprägt ist. Die im Folgenden vorge­stell­te Methode funktio­niert aber auch mit weniger stark dialek­ta­len Sprach­pro­ben. Bei der Methode handelt es sich um die Überla­ge­rung von Dialekt­kar­ten, auf denen die geogra­phi­sche Verbrei­tung von Dialekt­for­men darge­stellt ist. Bevor wir dazu kommen, sammeln wir erst einmal solche Dialekt­for­men, wobei hier keine Vollstän­dig­keit angestrebt werden kann. Es werden exempla­risch nur zehn Merkmale jeweils im Vergleich zu den standard­deut­schen Formen aufgezählt:

  1. In der ersten Passage produ­ziert der Sprecher für den Infinitiv des Verbs stehen [ʃtiː] (litera­risch: stii).
  2. Die 1. Person Plural des Verbs haben reali­siert der Sprecher als [huː] (litera­risch: hu).
  3. Für die 1. und die 3. Person Plural des Verbs sein verwendet der Sprecher [za̱ɪ̯] (litera­risch: sai).
  4. Den germa­ni­schen Plosiv t reali­siert der Sprecher als stimm­lo­sen alveo­la­ren Plosiv anstatt als Frikativ, er sagt also dat statt das.
  5. Den Diphthong in weiß (1. Person Singular von wissen) reali­siert der Sprecher als Monoph­thong [a̱ː] (litera­risch: waaß).
  6. Seine a‑Laute klingen manchmal wie o- bzw. sogar u‑Laute, z.B. in ja (litera­risch: jo) oder in ankommen (litera­risch: uukomme). In der Dialek­to­lo­gie wird dieses Merkmal als „a-Verdump­fung“ bezeichnet.
  7. Für finales /ɡ/ im Wort Sieg produ­ziert der Sprecher (7a) einen Frikativ und dieser Frikativ wird zudem (7b) nicht als palataler [ç], sondern als postalveo­la­rer Laut [ʃ] gebildet (litera­risch: Siisch). In der Dialek­to­lo­gie bezeich­net man diese Abwei­chun­gen von der Standard­spra­che (7a) als g-Spiran­ti­sie­rung und (7b) als Korona­li­sie­rung. Letztere tritt in der Aufnahme auch überall dort auf, wo standard­sprach­lich der stimmlose palatale Frikativ, der „ich-Laut“, reali­siert wird, z.B. in ich (litera­risch: isch).
  8. Das Wort schon wird als [ʃuː] (litera­risch: schuu) reali­siert.
  9. Das Phonem /r/ wird mit der Zungen­spit­ze als [r] gebildet. Verein­zelt ist außerhalb der transkri­bier­ten Passagen auch eine Reali­sie­rung als alveo­la­rer Appro­xi­mant [ɹ] hörbar).

Die Analyse: kartenbasierte Ermittlung der Herkunft

Um uns der Sprecher­her­kunft anzunä­hern, benötigen wir – wie gesagt – Karten, auf denen Dialekt­for­men im Raum darge­stellt sind. Solche Karten existie­ren für die Dialekte des Deutschen seit über einem Jahrhun­dert und sind in verschie­de­nen Atlas­wer­ken publi­ziert worden. Wir bedienen uns dem Sprach­at­las, der mit fast 50 000 Erhebungs­or­ten auf der bis zum heutigen Tag umfang­reichs­ten Daten­samm­lung basiert: dem Sprach­at­las des Deutschen Reichs von Georg Wenker, der zwischen 1888 und 1923 bearbei­tet und gezeich­net wurde (eine Projekt­be­schrei­bung findet sich online hier). Dieser Atlas ist – wie viele andere Sprach­at­lan­ten zum Deutschen auch – frei digital verfügbar und kann auf den Seiten unseres von der Akademie der Wissenschaften und der Literatur | Mainz von 2008 bis 2026 geför­der­ten Projekts „Regionalsprache.de“ (kurz: REDE) aufge­ru­fen werden (vgl. Ganswindt/Kehrein/Lameli 2015). Die folgende Abbildung zeigt die Dialekt­kar­te für den Infinitiv des Verbs stehen (= Merkmal 1 der Aufzählung).



Abbildung 1: Karte und Ausschnitt­ver­grö­ße­rung für den Infinitiv des Verbs stehen aus dem Sprach­at­las des Deutschen Reichs (Karte WA 182).

Zunächst einige allge­mei­ne Hinweise zu diesen Sprach­kar­ten: Die Ausdeh­nung des Erhebungs­ge­biets, das Deutsche Reich im ausge­hen­den 19. Jahrhun­dert, war so groß, dass die Karten für ein Thema (in unserem Fall der Infinitiv stehen) in drei Karten­blät­ter aufge­teilt werden mussten (je ein Nordwest‑, Nordost- und Südwest­blatt), die in der Darstel­lung im REDE-System aller­dings digital wieder zusam­men­ge­fügt wurden (vgl. auch Lameli/Purschke/Rabanus 2015). Auf der gedruck­ten Grund­kar­te sind farbige Linien einge­zeich­net worden, die in der Dialek­to­lo­gie als „Isoglos­sen“ bezeich­net werden. Innerhalb der dadurch abgegrenz­ten Gebiete dominiert eine bestimmte dialek­ta­le Form für das auf der Karte darge­stell­te Thema, die sogenann­te Leitform, die mit latei­ni­scher Schrift in die jewei­li­gen Gebiete einge­tra­gen wurde. Dies ist in der Ausschnitt­ver­grö­ße­rung in Abbildung 1 zu erkennen. Falls es an Orten innerhalb von Isoglos­sen Abwei­chun­gen von der Leitform gibt, so sind diese mit Symbolen gekenn­zeich­net, die sich über die für jedes Karten­blatt angefer­tig­te Legende erschlie­ßen lassen.

Zurück zu unserem Sprecher und zur Ermitt­lung von dessen Herkunft: In Abbildung 2 sind für das Gebiet der Bundes­re­pu­blik Deutsch­land einige der Leitfor­men für den Infinitiv stehen einge­tra­gen. Es zeigt sich, dass es in der Mitte Deutsch­lands drei Regionen gibt, in denen die von unserem Sprecher produ­zier­te Form [ʃtiː] bzw. stii auftritt (eine im Westen, zwei im Osten Deutsch­lands). Auf der Wenker­kar­te ist diese Reali­sie­rung zwar als stieh wieder­ge­ge­ben, man kann aber davon ausgehen, dass diese Buchsta­ben­fol­ge nicht auf eine Quali­täts­ver­än­de­rung des Stamm­vo­kals im Sinne eines fallenden Diphthongs hindeutet, sondern dass sowohl das <e> als auch das <h> von den Infor­man­ten als Dehnungs­zei­chen geschrie­ben wurden.


Abbildung 2: Leitfor­men für die dialek­ta­le Reali­sie­rung des Infini­tivs stehen (Karte WA 182) im Gebiet der Bundes­re­pu­blik Deutschland.

Mit dem Zeichen­werk­zeug in der Online-Applikation REDE SprachGIS – das „Sprach­geo­gra­phi­sche Infor­ma­ti­ons­sys­tem“ in REDE (vgl. Kehrein 2019) – lassen sich die Verbrei­tungs­ge­bie­te der Leitfor­men als Polygone nachzeich­nen (eine Anleitung zur Verwen­dung des Zeichen­werk­zeugs findet sich online hier). In Abbildung 3 wurden die Gebiete, in denen die Leitform stieh einge­tra­gen wurde, in dieser Weise erfasst.


Abbildung 3: Gebiete mit der Leitform stieh für die dialek­ta­le Reali­sie­rung des Infini­tivs stehen (Karte WA 182).

Auf dieselbe Weise wurden anhand der Wenker­kar­ten für das zweite und das dritte der oben genannten Merkmale – „1. Person Plural von haben“ (Karte WA 338) und „1. und 3. Person Plural von sein“ (Karte WA 334) – die Verbrei­tungs­ge­bie­te der von dem Sprecher verwen­de­ten Formen [huː] (litera­risch: hu) und [za̱ɪ̯] (litera­risch: sai, als Leitform in der Wenker­kar­te steht sei) abgezeich­net (vgl. die Abbil­dun­gen 4 und 5). Auch diese Formen finden sich in der Mitte Deutsch­lands, wobei die Reali­sie­rung von haben als [huː] bzw. hu nur in einem kleineren westli­chen Gebiet, im Osten dagegen nicht auftritt (zumindest nicht als Gebiet, das durch eine Isoglosse abgegrenzt wird).


Abbildung 4: Gebiete mit der Leitform hu für die dialek­ta­le Reali­sie­rung der 1. Person Plural des Verbs haben (Karte WA 338).

Abbildung 5: Gebiete mit der Leitform sei für die dialek­ta­le Reali­sie­rung der 1. Person Plural des Verbs sein (Karte WA 334).

Da unser Sprecher die drei jeweils markier­ten Formen verwendet, überla­gern wir die Polygone für deren Verbrei­tungs­ge­bie­te in Deutsch­land, wie in Abbildung 6 darge­stellt. Durch diese Überla­ge­rung lässt sich erkennen, dass die am wenigsten weit verbrei­te­te Form die Reali­sie­rung der 1. Person Plural von haben als [huː] bzw. hu ist (orange­far­be­nes Polygon). An dessen Ausdeh­nung ist wesent­lich auch die Schnitt­flä­che orien­tiert, die sich mit den Werkzeu­gen im REDE SprachGIS erzeugen lässt und die der Übersicht in Abbildung 6 als Ausschnitt­ver­grö­ße­rung zur Seite gestellt ist (auch für die geome­tri­sche Operation „Schnitt“ wird auf den Seiten des REDE-Projekts eine Anleitung angeboten).

Abbildung 6: Überla­ge­rung der Polygone für die Reali­sie­run­gen von stehen als stieh, (wir) sind als sei und (wir) haben als hu sowie die Schnitt­flä­che als Ausschnittvergrößerung.

In der Ausschnitt­ver­grö­ße­rung in Abbildung 6 ist durch die Eintra­gun­gen auf der Grund­kar­te gut zu erkennen, in welcher Region Deutsch­lands wir uns befinden: Die Schnitt­flä­che hat eine Größe von ungefähr 100 × 100 km und ist einge­rahmt vom Rothaar­ge­bir­ge im Norden, dem Wester­wald im Westen, dem Vogels­berg in Osten und dem Taunus im Süden. Sprach­geo­gra­phisch liegt der größte Teil der Schnitt­flä­che im Zentral­hes­si­schen, wobei Ausläufer im Norden auch ins Nordhes­si­sche und im Westen ins Übergangs­ge­biet zum Mosel­frän­ki­schen reichen.

An dieser Stelle kommt eine weitere standard­ab­wei­chen­de Form, die der Sprecher reali­siert, ins Spiel: Und zwar verwendet er für den Artikel bzw. das Pronomen das eine Form mit auslau­ten­dem Plosiv [t] statt des Frikativs [s], er sagt also dat. Dieser Gegensatz von standard­sprach­li­chem Frikativ und dialek­ta­lem Plosiv bildet Teil eines komplexen Lautwan­dels, der sich vor über einem Jahrtau­send vollzogen hat und der sich in den deutschen Dialekten bis heute spiegelt. Die Rede ist von der Zweiten oder Hochdeut­schen Lautver­schie­bung, auf die hier aller­dings nicht näher einge­gan­gen werden kann. Für unsere Zwecke, die Herkunfts­be­stim­mung des anonymen Sprechers, genügt es, auf der Karte in Abbildung 7 die Vertei­lung von Plosiv und Frikativ im Auslaut von das darzu­stel­len (Basis bildet die Karte WA 472).


Abbildung 7: Gebiete mit auslau­ten­dem -t und auslau­ten­dem -s im Artikel das (Karte WA 472).

Auf der Karte in Abbildung 7 ist die Verbrei­tung der Formen mit finalem Plosiv in dem dunkleren, die Verbrei­tung der Frika­tiv­for­men im helleren Blau darge­stellt. Diese neue Infor­ma­ti­on wird nun in Abbildung 8 mit der Schnitt­flä­che der dialek­ta­len Formen für stehen, (wir) haben und (wir) sind kombi­niert. Dadurch zeigt sich, dass von der Schnitt­flä­che nur noch ein sehr kleiner Teil im Westen übrig bleibt, in dem Sprecher die genannten Verbfor­men und dat für das produ­zie­ren (Überla­ge­rung von Grün und dunklem Blau). Die Ausdeh­nung dieses Gebietes beträgt ca. 20 × 20 km.


Abbildung 8: Überla­ge­rung der Schnitt­flä­che der Formen stieh/sei/hu und der Reali­sie­rung des Auslauts im Artikel das als Plosiv (Dunkel­blau) und als Frikativ (Hellblau).

Des Rätsels Lösung

Kommen wir zur Auflösung: Woher kommt der Sprecher denn nun? Im Verlauf des Inter­views wird ihm diese Frage gestellt, wobei diese Passage in dem zu bearbei­ten­den Ausschnitt der Aufnahme im Seminar-Wettbewerb nicht enthalten war. Der Sprecher gibt an, aus Rehe im Wester­wald (er spricht es als [ɹiː], litera­risch Rii aus) zu stammen. Wie oben bereits ausge­führt, berührt die Schnitt­flä­che im Westen den Wester­wald. Liegt nun aber Rehe in dem anhand der vier dialek­ta­len Formen abgegrenz­ten Gebiet?


Abbildung 9: Überla­ge­rung der Schnitt­flä­che der Formen stieh/sei/hu und der Reali­sie­rung des Auslauts im Artikel das als Plosiv (Dunkel­blau) und als Frikativ (Hellblau) und Ort der Sprecherherkunft.

Die Darstel­lung in Abbildung 9 zeigt den Ortspunkt für Rehe zusammen mit der Karte aus Abbildung 8. Leider zeigt sich, dass Rehe nicht innerhalb der Fläche liegt, in der sich das grüne und das dunkel­blaue Polygon überla­gern, sondern in der unmit­tel­ba­ren Umgebung. Wir wollen überprü­fen, welche der Verbrei­tungs­ge­bie­te der vier Dialekt­merk­ma­le Rehe nicht mit einschlie­ßen. Da es die Form dat nicht ist, wird in Abbildung 10 noch einmal die Überla­ge­rung der drei Polygone für die Verbfor­men darge­stellt. Hier wird deutlich, dass Rehe außerhalb des Polygons liegt, innerhalb dessen die Leitform [huː] bzw. hu für (wir) haben gilt (orange­far­be­nes Polygon).


Abbildung 10: Überla­ge­rung der Polygone für die Reali­sie­run­gen von stehen als stieh, sind als sei und haben als hu und Ort der Sprecherherkunft.

Aus diesem Grund gehen wir nochmals einen Analy­se­schritt zurück und prüfen, welche Form für die 1. Person Plural für haben die Infor­man­ten aus Rehe in Wenkers Erhebung angegeben haben. Der Karten­aus­schnitt in Abbildung 11 zeigt, dass Rehe in einem Gebiet liegt, für das die Leitform ho einge­tra­gen wurde. Für Rehe (es handelt sich um den unteren der drei Ortspunk­te innerhalb des roten Kreises, nördlich des auf der Grund­kar­te einge­zeich­ne­ten Rehbachs gelegen) wurde aber ein rotes, L‑förmiges Symbol einge­zeich­net. Dieses Symbol steht, wie ein Blick in die Legende des Nordost-Blattes für die Karte zeigt, für den Stamm­vo­kal u, also eine Reali­sie­rung von haben als hu. Dass sich gegebe­nen­falls ein genauerer Blick auch über die durch Isoglos­sen abgegrenz­ten Gebiete hinaus lohnt, sollte bei der Anwendung der hier präsen­tier­ten Methode auf jeden Fall berück­sich­tigt werden. An dieser finalen Beobach­tung zeigt sich, dass sich Wenkers Ansatz, „lieber Weniges aus möglichst allen, als Vieles aus einer ungenü­gen­den Zahl an Ortschaf­ten einzu­sam­meln“ (Wenker 1881, VIII; Sperrung im Original), für das hier hinsicht­lich der regio­nal­sprach­li­chen Prägung durch­ge­führ­te Speaker Profiling durchaus ausge­zahlt hat.


Abbildung 11: Detail­an­sicht der Karte für die dialek­ta­le Reali­sie­rung der 1. Person Plural des Verbs haben in der Region um den Ort Rehe (Karte WA 338).

Fazit

Die im vorlie­gen­den Beitrag beschrie­be­ne Analyse zeigt, dass es bei Personen, die einen ausge­präg­ten Dialekt sprechen, ausrei­chen kann, die regionale Distri­bu­ti­on von wenigen Merkmalen – hier waren es vier Dialekt­for­men – zu ermitteln, um eine Idee von der möglichen regio­na­len Herkunft dieser Person zu bekommen. Die Erfahrung aus mehreren der einlei­tend beschrie­be­nen Seminar-Wettbewerbe zeigt, dass diese Methode der dialekt­kar­ten­ba­sier­ten Eingren­zung einer möglichen Herkunft eines Sprechers oder einer Spreche­rin auch mit Sprach­pro­ben funktio­niert, in denen sich die Personen stärker an der Standard­spra­che orien­tie­ren. Auch in solchen Sprech­wei­sen sind noch regio­nal­sprach­li­che Merkmale enthalten, deren Verbrei­tung sich aus den (alten) Dialekt­kar­ten, auf die man über das REDE SprachGIS zugreifen kann, ermitteln lässt. Die Methode stößt aller­dings dann an ihre Grenzen, wenn Personen ihre Sprach­prä­ge­pha­se in verschie­de­nen Regionen des deutschen Sprach­raums verbracht und sich Merkmale aus allen dieser Regionen angeeig­net haben. Für solche Spreche­rin­nen und Sprecher lässt sich dann im foren­si­schen Kontext kein so klares Profil erstellen wie für den exempla­risch im vorlie­gen­den Beitrag analy­sier­ten Sprecher. Sobald bei sprach­lich varia­ble­ren Personen aller­dings Vergleichs­auf­nah­men vorliegen, ist ein spezi­fi­scher Varian­ten­mix in deren Alltags­spra­che von großem Wert für die Entschei­dung, mit welcher Wahrschein­lich­keit Sprecher­iden­ti­tät vorliegt.

Literatur

  • Ganswindt, Brigitte/Kehrein, Roland/Lameli, Alfred (2015): Regionalsprache.de (REDE). In: Kehrein, Roland/Lameli, Alfred/Rabanus, Stefan (Hrsg.): Regionale Variation des Deutschen. Projekte und Perspek­ti­ven. De Gruyter: Berlin/Boston, 425–457. doi:10.1515/9783110363449-019
  • Kehrein, Roland (2019): Regionalsprache.de (REDE) – das REDE SprachGIS. In: Eichinger, Ludwig M./Plewnia, Albrecht (Hrsg.): Neues vom heutigen Deutsch. Empirisch – metho­disch – theore­tisch. Berlin/Boston, 327–330.
  • Köster, Olaf (2001): Die Datenbank regio­na­ler Umgangs­spra­chen (DRUGS). Ein neues Datenbank-Expertensystem für die foren­si­sche Sprecher­er­ken­nung. Krimi­na­lis­tik 1: 46–50.
  • Köster, Olaf/Kehrein, Roland/Masthoff, Karen/Boubaker, Yasmin Hadi (2012): The tell-tale accent: identi­fi­ca­ti­on of regio­nal­ly marked speech in German telephone conver­sa­ti­ons by forensic phone­ti­ci­ans. In: The Inter­na­tio­nal Journal of Speech, Language and the Law 19.1: 52–71.
  • Künzel, Hermann J. (1987): Sprecher­er­ken­nung. Grundzüge foren­si­scher Sprach­ver­ar­bei­tung. Heidelberg.
  • Lameli, Alfred/Purschke, Christoph/Rabanus, Stefan (2015): Digitaler Wenker-Atlas (DiWA). In: Kehrein, Roland/Lameli, Alfred/Rabanus, Stefan (Hrsg.): Regionale Variation des Deutschen. Projekte und Perspek­ti­ven. De Gruyter: Berlin/Boston, 127–154. doi:10.1515/9783110363449-007
  • Wenker, Georg (1881): Sprach­at­las von Nord- und Mittel­deutsch­land. Auf Grund von syste­ma­tisch mit Hülfe der Volks­schul­leh­rer gesam­mel­tem Material aus circa 30.000 Orten. Bearbei­tet, entworfen und gezeich­net von Dr. G. Wenker. Strassburg/London.
  • Wenker, Georg (1888–1923): Sprach­at­las des Deutschen Reichs. Marburg: Handgezeichnet.

Diesen Beitrag zitieren als:

Kehrein, Roland. 2021. Wo kommt die/der denn her? Dialekt­kar­ten für das Speaker Profiling. Sprach­spu­ren: Berichte aus dem Deutschen Sprach­at­las 1(7). https://doi.org/10.57712/2021-07.

Roland Kehrein
Roland Kehrein ist in einer Akademie-Forschungsprofessur für Germanistische Sprachwissenwissenschaft (Schwerpunkt Regionalsprachenforschung) an der Philipps-Universität Marburg, Forschungszentrum Deutscher Sprachatlas, und in der Projektleitung des Akademie-Projekts "Regionalsprache.de".