Deutsch wird nicht allein im zusammenhängenden kontinentalgermanischen Sprachraum gesprochen. Weltweit finden sich zahlreiche Ortschaften und Regionen, deren Gründung teilweise bis ins 11./12. Jh. zurückreicht und in denen noch heute Deutsch gesprochen wird. Diese Sprachinseldialekte sind für die Sprachwissenschaft aus mehreren Gründen interessant. Zum einen sind dort oftmals sprachliche Erscheinungen konserviert, die im Binnensprachraum inzwischen verschwunden sind. Zum anderen haben sich die Inselmundarten untereinander sehr häufig vermischt. Diese sprachlichen Mischungen betreffen nicht nur das Deutsche und die überdachende nicht deutsche Sprache der Region oder des Landes. Auch zwischen den deutschen Mundarten kommt es zu teilweise sehr starken Ausgleichsprozessen, die zu ganz neuen sprachlichen Varietäten führen können. Zudem wirkt auch die Schriftsprache auf die Inselmundarten ein, in jüngerer Zeit auch die gesprochene, z. B. über das Internet erfahrbare Standardsprache.
Es ist daher ein reizvolles Experiment festzustellen, welche Varietäten des Binnensprachraumes die Inselmundarten besonders stark prägen. Für eine Prüfung bieten sich computerlinguistische Methoden an. Es lassen sich z. B. Ähnlichkeitsberechnungen durchführen (sog. Similaritätsmessungen), die regionale Schwerpunkte im Mutterland ausweisen. Hierfür benötigt man zunächst sprachliche Daten der zu analysierenden Sprachinselvarietät sowie zum Vergleich einen zweiten Datensatz der deutschen Dialekte mit denselben bzw. vergleichbaren Kennwörtern. Auf dieser Grundlage lassen sich dann Vergleichsanalysen vornehmen.
In den folgenden Karten sind die Ergebnisse entsprechender Messungen dargestellt. Datengrundlage für die deutschen Dialekte sind die Erhebungen von Georg Wenker zum Sprachatlas des Deutschen Reichs. In diesem Atlas sind die Dialekte aus ca. 50.000 Orten des deutschen Staatsgebiets um 1880 erfasst. Für 66 sprachliche Kennwörter wurden daraus die dialektalen Realisierungen auf dem Gebiet der aktuellen deutschen Landkreise der BRD ausgelesen (vgl. zur Methode Lameli 2013). Anschließend wurden dieselben Daten aus Dokumentationen der deutschen Sprachinseln ausgelesen. Schon eine einfache Schnittmengenanalyse zeigt auf dieser Grundlage die Ähnlichkeit zwischen den Sprachinseln und den historischen deutschen Dialekten an.
Russland
Mit den Karten 1 und 2 sind zunächst zwei Orte aus der Wolgaregion aufgegriffen. Es handelt sich um sog. Mutterkolonien, d. h. Orte der frühesten Besiedelung, von denen aus weitere Regionen erschlossen wurden (Tochterkolonien). Die ersten deutschen Siedler waren bereits im 17. Jahrhundert an der Wolga ansässig, die eigentliche Besiedelung setzte hingegen erst im 18. Jahrhundert ein. Die Daten, die für die Analyse ausgewählt wurden, stammen aus den Jahren 1925 bis 1929. Sie wurden von dem russlanddeutschen Sprachforscher Georg Dinges erhoben und dienten als Grundlage für den Wolgadeutschen Sprachatlas (WDSA), der von Nina Berend und Rudolf Post 1997 bearbeitet und herausgegeben wurde. Die Karten 1 und 2 zeigen nun eine Berechnung der Unterschiede zwischen dem Datensatz von Dinges und dem Datensatz von Wenker auf dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland. Mit roter Farbe zeigen die beiden Karten an, wo sich die größten Ähnlichkeiten der beiden Orte in Deutschland ergeben.
Man könnte sehr leicht auf die Idee kommen, dass die rote Zone, die Herkunftsregion der Siedler ausweist. Das ist aber nicht der Fall. Gerade in Russland haben sich die deutschen Dialekte im Laufe der Zeit sehr stark vermischt. Was aber sehr deutlich wird, ist, welche sprachlichen Varietäten in den Sprachinseln dominieren, nämlich das östliche Rheinfränkische in Degott (Karte 1), wo sich 71% Übereinstimmung mit den Dialektrealisationen der Kennwörter nachweisen lassen, und das westliche und südliche Zentralhessische in Pobotschnoje (Karte 2) mit 61% Übereinstimmung. Diese Information kann nun in verschiedene Richtungen interpretiert werden. Interessant ist, dass die jeweilige sprachliche Prägung Anlass für mögliche Sprachwandelprozesse gibt. So lässt sich etwa darauf schließen, welche Varietäten im komplexen sprachlichen Kontakt besonders robust sind oder aber besonders sensitiv für sprachlichen Wandel. Man sieht zudem anhand der Blautöne, welche Regionen einen nur sehr schwachen oder gar keinen Anteil an den wolgadeutschen Mundarten haben, nämlich v. a. das Westniederdeutsche in Degott sowie das Niederdeutsche insgesamt, aber auch das Schwäbische in Pobotschnoje.
Es wurde oben bereits angesprochen, dass bei einem solchen Ansatz die seit der Auswanderung vollzogenen Sprachveränderungen berücksichtigt werden müssen, die sich sowohl im Binnenraum als auch in den Sprachinseln eingestellt haben können. Den Karten eignet vor diesem Hintergrund eine suggestive Kraft, der mit Vorsicht zu begegnen ist. Die Ähnlichkeitsmessungen sind nämlich nicht allein wegen der Verortung an sich bedeutsam, sondern insbesondere mit Blick auf das Ausmaß der Ähnlichkeit, das in den Messwerten zum Ausdruck kommt, sowie die statistische Bewertung dieser Ähnlichkeit. So liegen zwar für Degott die höheren Ähnlichkeitswerte vor, für Pobotschnoje jedoch das höhere Signifikanzniveau (p < 0,01 vs. p < 0,1). Das bedeutet konkret, dass Degott seine hohen Ähnlichkeitswerte in einer größeren Region des Binnenraums findet als Pobotschnoje, womit die Verortung von Pobotschnoje trotz geringerer Ausprägung als tendenziell sicherer gelten muss. Gleichwohl ist der Unterschied zur Binnenregion im Falle Degotts geringer, woraus sich ableiten lässt, dass in dieser Exklave weniger starke Umbauprozesse stattgefunden haben. Über die näheren Umstände und Beweggründe ist aus den Werten nichts zu lesen.
Darauf aufbauend können weitere Analysen eingeleitet werden. Nimmt man weitere Sprachinseln in den Blick, die über zusätzliche Korpora verfügbar sind, lassen sich über die Ähnlichkeitsgrade mit dem Binnenraum Hinweise auf die Veränderlichkeit der Sprachinseln ableiten. Das bedeutet mit Blick auf das Problem der möglichen Umbauerscheinungen, dass zwar für den Einzelort aus einem Messwert allein noch keine umfassenden Schlüsse auf Umbauprozesse gezogen werden können. Doch können aus der Masse mehrerer solcher Messungen Vergleiche zwischen Einzelorten gezogen werden, die geeignet sind, etwaige Besonderheiten aufzudecken und daraus neue Fragestellungen und Prüfannahmen abzuleiten.
In der nachfolgenden Tabelle 1 wird vor diesem Hintergrund eine Gegenüberstellung mit ausgewählten Sprachinseln des Deutschen vorgenommen, die nach demselben Verfahren ausgewertet wurden. Es handelt sich um zwei Sprachinseln des Binnenraumes (eine erzgebirgische Siedlung im Harz und eine pfälzische Siedlung bei Kleve) sowie ergänzend um eine zufällig ausgewählte weitere Außensprachinsel bei Hermannstadt (Sibiu) in Rumänien. Diese letzte Sprachinsel ist deshalb von Interesse, da es sich im Gegensatz zu den deutsch-russischen Orten um eine spätmittelalterlich-frühneuzeitliche Siedlung handelt.
Degott (RUS) | Pobotschnoje (RUS) | Louisendorf (D) | Harz (D) | Marpod (RO) | |
---|---|---|---|---|---|
MAX | 71% | 61% | 84% | 85% | 65% |
MW | 44% | 37% | 53% | 56% | 46% |
SD | 13% | 9% | 12% | 11% | 10% |
Bei der Betrachtung der Werte fällt unmittelbar auf, dass die Binnensprachinseln, sowohl hinsichtlich des Maximums als auch hinsichtlich des arithmetischen Mittels, die höchsten Ähnlichkeitswerte aufweisen. Demgegenüber sind die Werte der Außeninseln auf vergleichbarem Niveau deutlich geringer ausgeprägt. Die von Fremdsprachen überdachten Inseldialekte sind also den Binnendialekten unähnlicher als die von der deutschen Standardsprache überdachten. Das Alter der Sprachinsel scheint nach der Datenlage unerheblich zu sein. Damit ist eine direkte Einordnung der Ergebnisse gelungen, die Hinweise auf den übergeordneten Stellenwert der russischen Sprachinseldialekte leistet.
Brasilien
Eine vollkommen andere Situation als in Russland besteht für die deutschen Dialekte in Brasilien. Nicht nur, dass die Besiedelung dort etwas später einsetzte (nämlich im 19. Jahrhundert), auch die Mischung der Dialekte war dort weitaus geringer als in Russland. Mit derselben Methode, mit der die Sprachinseln in Russland vermessen wurden, lassen sich auch die deutschen Mundarten in Brasilien analysieren. Ausgewählt wurde der Ort Harmonie (“Harmonia”) in der Nähe von Porto Alegre im Bundesstaat Rio Grande do Sul. Die Daten für die Analyse wurden von Cléo Altenhofen vor Ort erhoben und für diesen Vergleich zur Verfügung gestellt.
Die Karten 3 bis 5 zeigen das Ergebnis der Analyse. Auch diese Karten sollten nicht als direkter Beleg der Herkunftsregion der Siedler genommen werden. Wie schon bei den Karten zum Russlanddeutschen lässt die sprachliche Ähnlichkeit hier vor allem eine Aussage über die eigentliche Prägung eines spezifischen Ortsdialektes zu. Die Spotanalyse (Karte 3), das ist ein Test, der nach signifikant hohen Ähnlichkeitswerten zusammenhängender Regionen fragt, zeigt einen eindeutigen Schwerpunkt im Rheinfränkischen, und zwar in direkter Nachbarschaft zum Hunsrück. Die Deutschen in Harmonie nennen ihren Dialekt übrigens selbst Hunsrückisch.
In den beiden anderen Karten (Karte 4 und Karte 5) ist die gesamte Datenverteilung aufgegriffen. Karte 4 zeigt die Rohwerte der Messung. Dabei wird ein zweiter Schwerpunkt sprachlicher Ähnlichkeit im ostmitteldeutschen Raum deutlich. Berücksichtigt man, dass diese Region wesentlichen Anteil an der Ausbildung unserer heutigen Schriftsprache hat, ist klar, was es mit diesem Schwerpunkt auf sich hat: Er verweist auf den oben bereits angedeuteten Einfluss der Schriftsprache auf den Dialekt im brasilianischen Harmonie. Ein solcher Einfluss lässt sich auch in anderen Sprachinseln immer wieder nachweisen. Gerade durch tradierte Sprüche, Gedichte oder Lieder, nicht zuletzt aber auch in der Kirche ergeben sich oft prägende Kontakte mit dieser Varietät.
Etwas deutlicher ist der östliche Schwerpunkt in Karte 5 zu sehen. Für diese Karte wurden die Mittelpunkte der Landkreise (Centroide) als Grundlage eines etwas einheitlicheren Netzes genommen (sog. Thiessen-Polygone). Anschließend wurden die Messwerte in den Landkreisen mit den Werten der umliegenden Regionen gemittelt. Die dadurch vollzogene Glättung des Kartenbildes schärft den Befund nun deutlich und konturiert die beiden Schwerpunkte besonders klar. Dies soll lediglich andeuten, dass sich die Ähnlichkeitsmessungen auf Grundlage der Rohdaten noch deutlich verfeinern lassen.
Fazit
Die hier gesehenen Analysen wiederholen in gewisser Hinsicht einen Ansatz der klassischen Sprachinselforschung. Schon für Dinges war eines der ersten Probleme, das sich ihm stellte, die Lokalisation der Ursprungsregionen dieser neuzeitlichen Besiedelungen. Letztlich hatten sich in Russland Siedler aus allen sprachlichen Großlandschaften Deutschlands niedergelassen. In mühsamer Kleinarbeit gelang ihm auf der Grundlage von Analysen einzelner sprachlicher Informationen eine sehr grobe Lokalisation der russlanddeutschen Orte in den Sprachlandschaften des geschlossenen deutschen Sprachraums in Europa. Hierfür verglich er seine Befunde in Russland mit dem historischen Sprachmaterial von Wenker. Mit Computermethoden lässt sich dies inzwischen deutlich schneller bewerkstelligen. Zugleich wird aber auch deutlich, wie gefährlich eine solche Analyse sein kann, wenn man die sprachlichen Mischungen der Dialekte außer Acht lässt. Der Vergleich mit Harmonie/Brasilien zeigt hingegen, dass die Bedingungen in den einzelnen Regionen der Erde durchaus sehr unterschiedlich ausgeprägt sein können. Es würde sich daher durchaus lohnen, auch andernorts solche Messungen vorzunehmen und auf ihre spezifische Aussagequalität zu prüfen.
Literatur
- Berend, Nina (Hrsg.) (1997): Wolgadeutscher Sprachatlas (WDSA) aufgrund der von Georg Dinges 1925–1929 gesammelten Materialien bearbeitet und herausgegeben von Nina Berend unter Mitarbeit von Rudolf Post. Tübingen, Basel: Francke. https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:bsz:mh39-77710
- Lameli, Alfred (2013): Strukturen im Sprachraum. Analysen zur arealtypologischen Komplexität der Dialekte in Deutschland. Berlin, Boston: De Gruyter. https://doi.org/10.1515/9783110331394
Diesen Beitrag zitieren als:
Lameli, Alfred. 2021. Similaritätsmessungen deutscher Sprachinselmundarten. Sprachspuren: Berichte aus dem Deutschen Sprachatlas 1(4). https://doi.org/10.57712/2021-04.