„Migration tötet!“ – Meinungsfreiheit oder Volksverhetzung?

1. Einleitung

Ob politi­sche Meinungs­frei­heit in einer freiheit­li­chen Demokra­tie bestimmte Grenzen hat, ist immer wieder Gegen­stand öffentlich-politischer Diskurse. Dies ist insbe­son­de­re dann der Fall, wenn sich Äußerun­gen auf Bevöl­ke­rungs­grup­pen beziehen und diese in ihrer Gesamt­heit herab­set­zen und verun­glimp­fen. Aus juris­ti­scher Perspek­ti­ve ist hier der Paragraph 130 des Straf­ge­setz­bu­ches relevant, in dem der Tatbe­stand der Volks­ver­het­zung geregelt wird:

„(1) Wer in einer Weise, die geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören, 1. gegen eine nationale, rassische, religiöse oder durch ihre ethnische Herkunft bestimmte Gruppe, gegen Teile der Bevölkerung oder gegen einen Einzelnen wegen dessen Zugehörigkeit zu einer vorbezeichneten Gruppe oder zu einem Teil der Bevölkerung zum Hass aufstachelt, zu Gewalt- oder Willkürmaßnahmen auffordert oder 2. die Menschenwürde anderer dadurch angreift, dass er eine vorbezeichnete Gruppe, Teile der Bevölkerung oder einen Einzelnen wegen dessen Zugehörigkeit zu einer vorbezeichneten Gruppe oder zu einem Teil der Bevölkerung beschimpft, böswillig verächtlich macht oder verleumdet, wird mit Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren bestraft.“ […]

(Strafgesetzbuch §130)

Das Recht auf freie Meinungs­äu­ße­rung als eines der Grund­pfei­ler einer freiheitlich-demokratischen Grund­ord­nung ist dagegen in Artikel 5, Absatz 1, des Grund­ge­set­zes geregelt:

„(1) Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten. Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film werden gewährleistet. Eine Zensur findet nicht statt.“

(Grundgesetz, Artikel 5)

Zweifels­oh­ne ist die Frage, ob Äußerun­gen noch durch Artikel 5 des Grund­ge­set­zes auf freie Meinungs­äu­ße­rung gedeckt sind, oder als Volks­ver­het­zung im Sinne des Paragra­phen 130 des Straf­ge­setz­bu­ches gelten, ein genuiner Gegen­stand der Recht­spre­chung. Aber auch die Politik­wis­sen­schaft und in jüngster Zeit die Lingu­is­tik beschäf­ti­gen sich mit der so genannten Hassrede. Stellt die Politik­wis­sen­schaft dabei eher die Frage, „inwiefern Regulie­run­gen des Ausdrucks von Hassrede mit bestimm­ten norma­ti­ven Vorstel­lun­gen über die liberale Demokra­tie verträg­lich sind […]“ (Meibauer  2013: 8) und damit die Frage nach der Beschrän­kung von Redefrei­heit in den Mittel­punkt, so fragt die Lingu­is­tik, wie sich Hassrede sprach­lich manifes­tiert und welche Funktio­nen sie in der politi­schen Kommu­ni­ka­ti­on hat. Unter Hassrede „wird im Allge­mei­nen der sprach­li­che Ausdruck von Hass gegen Personen oder Gruppen verstan­den, insbe­son­de­re durch die Verwen­dung von Ausdrü­cken, die der Herab­set­zung und Verun­glimp­fung von Bevöl­ke­rungs­grup­pen dienen.“ (Meibauer 2013: 1).

Hassrede ist immer auch Ausdruck einer polari­sie­ren­den diskur­si­ven Strategie. Spätes­tens seit 2015 ist es vor allem die Migrations- und Integra­ti­ons­po­li­tik und die damit verbun­de­ne Innen-Außen-Polarisierung (Einge­ses­se­ne vs. Migranten), die im politi­schen Diskurs eine zentrale Rolle spielt (vgl. Mau/Lux/Westheuser 2023: 47ff.). Hassrede zielt im Kontext der Innen-Außen-Polarisierung auf die Gruppe der Migrant*innen und ist ein charak­te­ris­ti­sches Merkmal rechts­po­pu­lis­ti­scher und rechts­extre­mer Parteien und Gruppie­run­gen. Sie kann unter­schied­li­che sprach­li­che Formen annehmen, die von direkter Hassrede bis hin zu indirek­ter Hassrede verlaufen kann, wobei sich letztere als diskur­si­ve Strategie unter anderem durch „kalku­lier­te Ambiva­lenz“ (Wodak 2020: 50) auszeich­net. Äußerun­gen dieser Art haben mehr als eine Bedeutung, müssen erst durch den Kontext pragma­tisch angerei­chert werden und richten sich an unter­schied­li­che Gruppen. Da das wörtlich Gesagte und das Gemeinte ausein­an­der­klaf­fen, können die Emittent*innen die Verant­wor­tung für das eigent­lich Inten­dier­te leugnen. Im straf­recht­li­chen Sinne ist dies von beson­de­rer Bedeutung, da bei mehrdeu­ti­gen Äußerun­gen die mögli­cher­wei­se vorhan­de­ne nicht straf­recht­lich relevante Deutungs­va­ri­an­te bei der recht­li­chen Beurtei­lung zugrunde gelegt wird.

Ein anschau­li­ches Beispiel hierfür ist der Fall eines NPD-Wahlplakats zur Europa­wahl 2019. Das Wahlpla­kat wurde zunächst von zwei Gerichten als volks­ver­het­zend gemäß Paragraph 130 StGB einge­stuft, um dann in einem Urteil des Bundes­ver­wal­tungs­ge­richts vom 26.4.2023 als noch von der freien Meinungs­äu­ße­rung gedeckt bewertet zu werden. Es soll zunächst auf die juris­ti­schen Bewer­tun­gen des Falls einge­gan­gen werden, um vor diesem Hinter­grund das Wahlpla­kat aus lingu­is­ti­scher Perspek­ti­ve zu analysieren. 

2. Das NPD-Wahlplakat und seine juristische Einordnung

Im Wahlkampf zur Europa­wahl 2019 hatte die NPD u. a. in Mönchen­glad­bach Wahlpla­ka­te mit dem Text Migration tötet! aufge­hängt. Das Wahlpla­kat zur Europa­wahl 2019 (Abb.1) zeigt in seinem rechten Drittel, das einen roten Hinter­grund hat, mittig die Abkürzung des Partei­na­mens NPD in weißer Schrift. Unterhalb des Partei­na­mens findet sich der ebenfalls in weißer Schrift gedruckte Text Wider­stand – jetzt –. Im linken, zwei Drittel des Plakates umfas­sen­den Teil des Plakats sind auf schwarz­grau­em Hinter­grund verschie­de­ne Ortsnamen deutscher Städte und Gemeinden zu sehen, die jeweils durch Kreuze getrennt werden. Im Vorder­grund ist unter der in Rot gedruck­ten Headline Stoppt die Invasion: in weißer Schrift und einem deutlich größeren Schrift­grad der Text Migration Tötet!  zu sehen,  wobei  Tötet!  unterhalb von Migration! steht und nochmals einen höheren Schrift­grad aufweist.

Abb. 1: Wahlpla­kat der NPD zur Europa­wahl 2019
(https://openjur.de/u/2186175.html [letzter Zugriff 23.1.24])

Die Stadt Mönchen­glad­bach ließ die Plakate abhängen, da sie ihrer Meinung nach den Tatbe­stand der  Volks­ver­het­zung erfüllten. Die NPD klagte dagegen, das Verwal­tungs­ge­richt Düssel­dorf und das westfä­li­sche Oberver­wal­tungs­ge­richt in Münster gaben der Stadt Mönchen­glad­bach Recht. In seiner Urteils­be­grün­dung stellt das Oberver­wal­tungs­ge­richt Münster fest, dass das Wahlpla­kat „Migranten generell mit Mördern gleich­setzt und hierdurch dieser Gruppe generell einen sozialen Achtungs­an­spruch  abspricht“ (OVGNRW: Absatz 134). Die „zentrale Botschaft ‚Migration tötet‘ lasse […] allein die Auslegung zu, dass die angespro­che­nen Personen in ihrer Gesamt­heit eine direkte Gefahr für Deutsche seien“ (OVGNRW: Absatz 137). Zwar ziele „Migration tötet“, so das OVGNRW, „auf den Vorgang der Migration als solchen und nicht auf Personen ab“ (OVGNRW: Absatz 126), doch es sei davon auszu­ge­hen, dass nicht der Migra­ti­ons­vor­gang als solcher gefähr­lich sei, sondern alle in Deutsch­land lebenden Migranten gemeint seien. Das Wahlpla­kat könne nicht „im Sinne einer Kritik an der Migra­ti­ons­po­li­tik verstan­den werden, sondern genera­li­siert […] die gesche­he­nen Taten erkennbar in Bezug auf die Gruppe der gesamten Migranten“ (OVGNRW: Absatz 127). Auch die Aufzäh­lung von Ortsnamen als vermeint­li­che Tatorte lasse nicht die Einschrän­kung auf eine bestimmte Perso­nen­grup­pe erkennen, sondern erwecke den Eindruck, „die Aufzäh­lung lasse sich (unendlich) fortset­zen; der Kreis der Taten sei als jeden­falls größer als darge­stellt“ (OVGNRW: Absatz 125). Der volks­ver­het­zen­de Gehalt einer Wahlwer­bung könne in diesem Fall auch am Partei­pro­gramm NPD bzw. an ihrer inneren Haltung festge­macht werden, „wenn jeden­falls dieser dauer­haf­te Kern des Partei­pro­gramms dem Wahlbür­ger als Adres­sa­ten so präsent ist, dass er die Aussage auch unter Berück­sich­ti­gung dieses Wissens auslegen und verstehen muss“ (OVGNRW: Absatz 129). So gelangt das OVGNRW zu dem folgenden Schluss:

„Das Zusammenspiel des Wortlauts des Plakats ‚Migration tötet‘ und ‚Invasion stoppen‘ lässt nur eine Auslegung zu, die eine bestimmte Bevölkerungsgruppe als Teil einer Invasion, die tötet, brandmarkt und erfüllt den Tatbestand des § 130 Abs. 1 StGB.“ 

(OVGNRW: Absatz 127)

Während das OVGNRW die Intention der NPD, eine Bevöl­ke­rungs­grup­pe in ihrer Gesamt­heit herab­zu­set­zen, als Grundlage für ihre Bewertung des Wahlpla­kats als volks­ver­het­zend heran­zieht, ist für die nächste Instanz, das Bundes­ver­wal­tungs­ge­richt in Leipzig, nicht die Intention der NPD entschei­dend, sondern der „objektive Sinn“, den eine Äußerung „nach dem Verständ­nis eines unvor­ein­ge­nom­me­nen und verstän­di­gen Publikums […]“ (BVerwG: Absatz 35) hat. Liegen mehrere Bedeu­tungs­va­ri­an­ten vor, dann sei zudem diejenige Variante zugrunde zu legen, die straf­recht­lich irrele­vant ist (vgl.BVerwG 2023: Absatz 35). So sei das Wahlpla­kat der NPD durch die Meinungs­frei­heit gedeckt, da es sich „objektiv als mehrdeu­tig erweist“ (BVerwG: Absatz 35), und als verkürzte und zugespitz­te Kritik an der Migra­ti­ons­po­li­tik der Bundes­re­gie­rung angesehen werden könne, die nicht den Tatbe­stand der Volks­ver­het­zung erfülle (vgl. BVerwG: Absatz 32). Das BVerwG weist auf die Notwen­dig­keit der „Berück­sich­ti­gung eines Wahlkampfs als Begleit­um­stand“ hin und zwar „in beson­de­rer Weise dann, wenn die betref­fen­de Äußerung – wie hier auf einem Wahlpla­kat – ersicht­lich ein Anliegen in nur schlag­wort­ar­ti­ger Form zusam­men­fasst“ (BVerwG: Absatz 32). Einen Einbezug des NPD-Parteiprogramms lehnt das BVerG jedoch im Gegensatz zu den beiden Vorin­stan­zen ab, da den Rezipient*innen das Wissen um die partei­li­che Program­ma­tik nicht unter­stellt werden könne (vgl. BVerwG: Absatz 36).

3. Der Fall aus linguistischer Perspektive

Dass die juris­ti­schen Bewer­tun­gen des NPD-Wahlplakats unter­schied­lich ausfallen, ist vor allem das Ergebnis der anfangs erwähnten kalku­lier­ten Ambiva­lenz bzw. der Divergenz zwischen wörtlich Gesagtem und Gemeintem und einer referen­ti­el­len Unter­be­stimmt­heit, die auf der Ebene des Gesagten keine eindeu­ti­ge Festle­gung auf die Gesamt­heit einer bestimm­ten Bevöl­ke­rungs­grup­pe zulässt.

Die der Urteils­be­grün­dung der beiden ersten Instanzen zugrunde liegenden Auffas­sung, die von der Intention und damit der tatsäch­lich beabsich­tig­ten Bedeutung des Wahlpla­kats ausgeht, ist noch am ehesten mit dem Bedeu­tungs­be­griff einer pragma­tisch ausge­rich­te­ten Lingu­is­tik kompa­ti­bel. Demnach etabliert sich Bedeutung in der sprach­li­chen Kommu­ni­ka­ti­on und ist das Ergebnis eines inten­tio­na­len Äußerungs­ak­tes seitens der Emittent*innen und einer Rekon­struk­ti­ons­leis­tung seitens der Rezipient*innen, die in konkreten Kommu­ni­ka­ti­ons­si­tua­tio­nen auf der Grundlage der Semantik der verwen­de­ten Ausdrücke reali­siert wird. Insbe­son­de­re in der politi­schen Kommu­ni­ka­ti­on ist das Heraus­fil­tern eines „objek­ti­ven Sinns“ kaum möglich, da es gerade im Wahlkampf darum geht, Meinungen und Einstel­lun­gen mit Hilfe des Ungesag­ten und nur Mitge­mein­tem zu trans­por­tie­ren und zu beein­flus­sen. Eindeu­ti­ge Festle­gun­gen zu vermeiden und sich auf das nur Gesagte, aber vermeint­lich nicht Gemeinte, zurück­zu­zie­hen, kann für die politi­schen Akteure ein strate­gi­scher Vorteil sein. Zudem lässt Vagheit in der Ausdrucks­wei­se mehr Spielraum für Inter­pre­ta­ti­ons­mög­lich­kei­ten seitens der Wähler*innen, die die nur mitge­mein­ten Leerstel­len auf der Grundlage ihrer eigenen politi­schen Einstel­lun­gen füllen können. Die von rechts­po­pu­lis­ti­schen und rechts­extre­men Gruppie­run­gen gewählte Strategie der kalku­lier­ten Ambiva­lenz zeichnet sich dadurch aus, dass sich ihre Botschaf­ten gleich­zei­tig an mehrere Gruppen in der Bevöl­ke­rung richtet, was eine eindeu­ti­ge Lesart mögli­cher­wei­se erschwert. 

Auf dem NPD-Wahlplakat werden Migrant*innen auf der Ebene des wörtlich Gesagten weder benannt noch als Gruppe in ihrer Gesamt­heit katego­ri­siert, sondern nur auf der Ebene des Ungesag­ten, aber Gemeinten. Hassrede erfolgt hier also indirekt. Dies betrifft sowohl die zentralen textu­el­len Bestand­tei­le des Plakats (Stoppt die Invasion: Migration tötet!) als auch die Bildele­men­te (Ortsnamen mit Kreuzen). Um dieses Phänomen zu analy­sie­ren und zu beschrei­ben, kann man auf die von Grice ([1975] 1989: 249f.) formu­lier­ten Maximen zurück­grei­fen. Grice stellt Maximen auf, an die sich die Betei­lig­ten unter ratio­na­len Gesichts­punk­ten halten: die Wahrheit sagen (Quali­täts­ma­xi­me), die erwartete Infor­ma­ti­ons­men­ge geben, nicht zu viel und nicht zu wenig sagen (Quanti­täts­ma­xi­me), nur zum Thema Relevan­tes sagen (Relevanz­ma­xi­me) und sich klar und verständ­lich ausdrü­cken (Modali­täts­ma­xi­me). Die Maximen können verletzt werden, was  zu Schluss­fol­ge­rungs­pro­zes­sen, so genannten Implikaturen, führt. Das Plakat verletzt vor allem die Maxime der Quantität, da es auf der Ebene des Gesagten nicht ausrei­chend Infor­ma­tio­nen über Art und Umfang der gemeinten Gruppe der Migrant*innen gibt. Auch die Ortsnamen mit den Kreuzen als vermeint­li­che Tatorte lassen durchaus den Schluss zu, die Liste ließe sich um eine unbestimm­te Zahl weiterer Namen erweitern. Die Verlet­zung der Quanti­täts­ma­xi­me korre­spon­diert mit einer auf der Ebene des Gesagten unein­deu­ti­gen Referenz. Referenz ist die Bezug­nah­me auf Ausschnit­te der Welt mit Hilfe sprach­li­cher Ausdrücke und referen­ti­el­le Unter­be­stimmt­heit liegt dann vor, wenn das Gesagte, um vollstän­dig erfasst zu werden, um etwas ergänzt werden muss, sei es um etwas Spezi­fi­sche­res oder Unspe­zi­fi­sche­res. Stoppt die Invasion lässt auf der Ebene des Gesagten offen, wer die so genannte Invasion stoppen soll und vor allem von wem diese ausgeht. Gemeint sind natürlich Migrant*innen, die durch die Kontex­tua­li­sie­rung mit Invasion eine eindeu­ti­ge Herab­set­zung erfahren. Wenn die NPD von „Invasion“ spricht, setzt sie voraus, dass dieser Sachver­halt gegeben ist, da ohne diese Voraus­set­zung (eine so genannte Existenzpräsupposition) alle weiteren Aussagen sinnlos wären. Die Semantik von Invasion lässt sich mit einer Trias aus denota­ti­ver (begriff­li­che Bedeutung, die die Eigen­schaf­ten des Denotats bzw. Referenz­ob­jek­tes beschreibt), evalua­ti­ver Bedeutung (wertende Bedeutung) und deonti­scher Bedeutung (Sollens- bzw. Nicht-Sollens-Bedeutung) beschrei­ben. Invasion bezeich­net ʻden Einfall, das illegale, feind­li­che Eindrin­gen militä­ri­scher Einheiten in fremdes Gebiet’, es bewertet diesen Vorgang negativ und fordert dazu auf, diesen Vorgang zu bekämpfen bzw. einzu­däm­men. Diese Handlungs­auf­for­de­rung wird verstärkt durch die Einbet­tung von Invasion in einen Auffor­de­rungs­satz mit Verb-Erst-Stellung sowie das Verb stoppt. Der abschlie­ßen­de Doppel­punkt verweist katapho­risch auf das folgende Migration tötet!, das so als Argument für die Handlungs­auf­for­de­rung dient. Migration tötet! verstößt auf der Ebene des wörtlich Gesagten gegen die Maxime der Modalität (der Migra­ti­ons­vor­gang als solcher ist nicht gemeint) und aufgrund seiner referen­ti­el­len Unter­be­stimmt­heit gegen die Maxime der Quantität. Gemeint sind Migrant*innen, die in Deutsch­land leben und denen in ihrer Gesamt­heit unter­stellt wird, Deutsche zu töten. Genau diese Schluss­fol­ge­rung aber, nämlich dass „nur die Gruppe der in Deutsch­land lebenden Migranten gemeint sein“ (BVerwG: Absatz 33) könne, wird vom BVerwG Leipzig in dieser Ausschließ­lich­keit bezweifelt. 

Abschlie­ßend soll noch kurz auf die unter­schied­li­che Auffas­sun­gen der Gerichte bezüglich der Berück­sich­ti­gung des Wahlpro­gramms der NPD bzw. des Wahlkampfs insgesamt bei der Auslegung des Wahlpla­kats einge­gan­gen werden. Wahlkämp­fe sind Phasen verdich­te­ter Politik, in denen eine Konzen­tra­ti­on auf Slogans und Schlag­wör­ter statt­fin­det und bestimmte Themen und Personen im Vorder­grund stehen (vgl. Girnth 2023: 440). Innerhalb des Bereichs der öffentlich-politischen Kommu­ni­ka­ti­on stellt der Wahlkampf einen Teilbe­reich dar, der durch ein spezi­fi­sches Kommu­ni­ka­ti­ons­ge­flecht, die Wahlkampf­kom­mu­ni­ka­ti­on, geprägt ist. Bemer­kens­wer­ter­wei­se verweist das BVerwG auf die Notwen­dig­keit der Berück­sich­ti­gung der Wahlkampf­si­tua­ti­on, lehnt aber den Einbezug des Partei­pro­gramms der NPD ab. Eine solche Auffas­sung verkennt aber, dass keine Äußerung im Wahlkampf isoliert statt­fin­det, sondern immer Teil eines diskur­si­ven Geflech­tes ist. So wird die Vernet­zung der Texte im Wahlkampf besonders am Partei­pro­gramm und besonders am Wahlpro­gramm deutlich, das als Prätext für zahlrei­che Texte der eigenen Wahlkam­pa­gne fungiert, also auch für die Wahlpla­ka­te der eigenen Partei (vgl. Girnth 2023: 442, vgl. auch Geier 2013: 277). 

Insgesamt gesehen ist das NPD-Wahlplakat ein Beispiel für indirekte Hassrede, die sich durch referen­ti­el­le Unter­be­stimmt­heit und die Divergenz von wörtlich Gesagtem und Gemeintem auszeich­net. Die unter­schied­li­chen juris­ti­schen Bewer­tun­gen als volks­ver­het­zend oder als von der Meinungs­frei­heit gedeckt zeigen, dass Vagheit im Ausdruck und kalku­lier­te Ambiva­lenz eine erfolg­rei­che, hier rechts­extre­me Strategie darstel­len, da sie Rückzugs­mög­lich­kei­ten auf eine straf­recht­lich irrele­van­te Lesart ermög­li­chen. Die Botschaft der NPD, Migrant*innen auf katego­ria­le Weise herab­zu­set­zen, ist klar erkennbar. Sie richtet sich vor allem an die eigene Klientel, die diese Botschaft erkennt und dadurch die eigenen Einstel­lun­gen bekräf­tigt sieht. 

Literatur

Bundes­ver­wal­tungs­ge­richt Leipzig (BVerwG), 6 C 8.21, Urteil vom 26.4.2023. https://www.bverwg.de/260423U6C8.21.0 [letzter Zugriff 23.1.24]

Geier, Ruth (2013): „Es sieht ja keiner“. Zur Wahlkampf­kom­mu­ni­ka­ti­on der NPD. In: Aptum. Zeitschrift für Sprach­kri­tik und Sprach­kul­tur 3, 275–289

Girnth, Heiko (2023): Wahlpro­gram­me und Wahlkampf­re­den. In: Janich, Nina/ Pappert, Steffen/ Roth, Kersten Sven (Hgg.): Handbuch Werber­he­to­rik. Berlin/ Boston: de Gruyter. (Handbü­cher Rhetorik Band 12), S. 439–460.

Grice, Herbert Paul (1975/1989): Logic and Conver­sa­ti­on. In: Grice, Paul: Studies in the Way of Words, Cambridge: Harvard Univer­si­ty Press, S. 22–40. dt. Überset­zung: Logik und Konver­sa­ti­on. In: Meggle, Georg (Hg.): Kommu­ni­ka­ti­on und Bedeutung. Frankfurt 1993, S. 243–265.

Mau, Steffen/ Lux, Thomas/ Westheu­ser, Linus (2023): Trigger­punk­te. Konsens und Konflikt in der Gegen­warts­ge­sell­schaft. Berlin: Suhrkamp. (edition suhrkamp).

Meibauer, Jörg (Hg.) (2013): Hassrede/ Hate Speech. Inter­dis­zi­pli­nä­re Beiträge zu einer aktuellen Diskus­si­on. (Lingu­is­ti­sche Untertsu­chun­gen 6). Gießener Elektro­ni­sche Biblio­thek 2013. http://geb.uni-giessen.de/geb/volltexte/2013/9251/

Oberver­wal­tungs­ge­richt Nordrhein-Westfalen (OVGNRW), 5 A 1386/20, Urteil vom 22.6.2021. https://www.justiz.nrw.de/nrwe/ovgs/ovg_nrw/j2021/5_A_1386_20_Urteil_20210622.html [letzter Zugriff 23.1.24]

Wodak, Ruth (2020): Politik mit der Angst. Die schamlose Norma­li­sie­rung rechts­po­pu­lis­ti­scher und rechts­extre­mer Diskurse. 2., völlig neu bearbei­te­te Aufl. Wien, Hamburg: Edition Konturen.

Diesen Beitrag zitieren als:

Girnth, Heiko. 2024. „Migration tötet!“ – Meinungs­frei­heit oder Volks­ver­het­zung? In: Sprach­spu­ren: Berichte aus dem Deutschen Sprach­at­las 4(2). https://doi.org/10.57712/2024-02

Heiko Girnth
Heiko Girnth ist außerplanmäßiger Professor am Forschungszentrum Deutscher Sprachatlas und leitet dort die Arbeitsgruppe "Georeferenzierte Online-Bibliographie Areallinguistik" im Projekt Regionalsprache. Seine Interessen liegen u. a. in den Bereichen Variationslinguistik und Politolinguistik.