Wie kann es sein, dass Frauen nach der Geburt berichten, von bestimmten Ereignissen und Entscheidungen unter der Geburt überrascht worden zu sein, obwohl sich Hebammen und Ärzt*innen sicher sind, diese Aspekte im vorbereitenden Gespräch erläutert zu haben? Wie kann die Gesprächsführung in diesem speziellen medizinischen Kontext so gestaltet werden, dass Verstehen gefördert und gemeinsames Wissen in Interaktion hergestellt wird?
Diese Fragen bilden den praxisorientierten Ausgangspunkt unseres Projekts „Verstehen, Relevanzsetzung und Wissen in der Schwangerenberatung“, das durch Dr. Siegmund Köhler, den Leiter der Klinik für Geburtshilfe des Universitätsklinikums Marburg, angestoßen wurde.
Neben diesem direkt aus der Praxis abgeleiteten Interesse, sind Gespräche im Rahmen der Schwangerenberatung auch aus theoretischer Sicht wichtig, da sie sich in einem besonderen Spannungsfeld befinden: Als Gespräche im medizinischen Kontext konfrontieren sie die Beteiligten mit hohen ethischen, juristischen und emotionalen Anforderungen. Für Gespräche in der Geburtshilfe und der Schwangerenberatung gilt dies in besonderem Maße, da Schwangere ob der Fülle an Informationen und der Erwartungen an sie als werdende Mütter häufig unsicher sind und Hebammen und Ärzt*innen in Teilen defensiv agieren, um sich juristisch abzusichern. Dies kann im Kontrast zur Notwendigkeit stehen, einen
herzustellen, um Entscheidungen gemeinsam und informiert treffen zu können.Obwohl es sich um einen Lebensbereich handelt, der essentielle ethische und gesellschaftspolitische Fragen tangiert, hat dieser Bereich in der Gesprächsforschung, anders als vergleichbare medizinische Gespräche, bisher
erfahren.Daher wird in diesem Projekt sowohl die Beschreibung von Gesprächen der Schwangerenberatung als eigenes Gesprächsformat mit spezifischen Funktionen als auch die Entwicklung von Handreichungen zur Gesprächsführung für die Praxis verfolgt. Das Projekt geht prozessorientiert und sequentiell vor und verortet sich in der grounded practical theory (Craig / Tracy 2014) an die Praxis bindet.
und ‑rhetorik. Die Analysen und Ergebnisse werden an das Feld zurückgespielt, mit den Hebammen diskutiert sowie gesprächspraktisch gewendet. Damit folgt das Projekt einem sprechwissenschaftlich orientierten Zugang, der die grundlegende Gesprächsanalyse im Sinne einerDatengrundlage
Grundlage der Beschreibung sind natürliche Gesprächsdaten, die 2017 und 2018 in zwei Phasen am Universitätsklinikum Marburg erhoben wurden. Das Korpus umfasst insgesamt 37 Videoaufnahmen von Gesprächen, deren Länge zwischen 10 und 60 Minuten variiert, wobei sie im Mittel eine Länge von 20 Minuten aufweisen. Das Datenmanagement folgt den „Empfehlungen zu datentechnischen Standards und Tools bei der Erhebung von Sprachkorpora“ der DFG (hier einzusehen); ein Ethikvotum der Universität Marburg liegt vor.
Alle Gesprächen liegen als Basistransskripte (nach GAT2) vor. Abb. 1 zeigt einen gesprächseröffnenden Abschnitt in Form eines Basistranskripts. Es enthält einige besondere Symbole und Notationskonventionen, die bspw. bei Selting et. al. (2009) beschrieben sind; eine kurze Beschreibung der im Ausschnitt des Gesprächs 11 verwendeten Notationen lassen sich durch Klicken der Fußnote1Die Gespräche werden chronologisch und nach Intonationsphrasen getrennt transkribiert, was durch die Nummerierung der einzelnen Zeilen deutlich wird. 001 stellt den Beginn des Gesprächs dar. Es folgt die Angabe der sprechenden Person. Die Hebammen (ML) beginnt das Gespräch. Hinter dem Doppelpunkt ist das Gesagte wiedergegeben. Besondere Aspekte der gesprochenen Sprache werden mit graphischen Mitteln wiedergegeben. Fokusakzentsilben werden in Großbuchstaben notiert (oKAY). Es handelt sich um Silben, die für die Bedeutung der entsprechenden Äußerung besonders wichtig sind. Ein auffällig starker, d. h. phonetisch durch besonders starke Tonhöhenbewegung oder Lautstärke hervorgehobener Akzent, wird zusätzlich durch Ausrufezeichen vor und nach der Akzentsilbe markiert (ge!BU:RT!). Einige als Satzzeichen bekannte Symbole fungieren nicht als orthographische Zeichen, sondern markieren die Tonhöhenbewegungen am Ende von Intonationsphrasen. Das Semikolon (oKAY;) indiziert eine mittel fallende Tonhöhenbewegung, ein Komma (vorst[e:ll]en;=ne,) eine mittel steigende bis gleichbleibende Tonhöhenbewegung, der Punkt (GUT.) eine tief fallende und der Halbgeviertstrich (ge!BU:RT! -) eine schwebende Tonhöhenbewegung am Ende der Intonationsphrase. Mit eckigen Klammern ([JA.] und [e:ll] aus vorstellen) wird überlappendes und simultanes Sprechen von verschiedenen Gesprächspartner*innen vermerkt. Ein- bzw. Ausatmungsgeräusche werden, je nach Dauer, als °h / h° (ca. 0.2–0‑5 Sekunden), °hh / hh° (ca. 0.5–0.8 Sekunden) oder °hhh / hhh° (ca. 0.8–1.0 Sekunden) notiert. Werden Frageanhängsel an eine Intonationsphrase angeschlossen, so werden diese mit einem Gleichzeichen angebunden (vorst[e:ll]en;=ne). Gedehnte Silben werden mit einem Doppelpunkt (ge!BU:RT!) (für 0.2–0.5 Sekunden Dehnung) oder zwei Doppelpunkten (::) (für 0.5–0.8 Sekunden Dehnung) bzw. drei (:::) (für 0.8–1.0 Sekunden Dehnung) Doppelpunkten versehen. Kleine Pausen von bis zu 0.2 Sekunden werden als von einer Klammer umschlossener Punkt ((.)) notiert. Schließlich finden sich auch einige Hinweise zu para- und außersprachlichen Handlungen und Ereignissen. Diese werden sprachbegleitend inklusive ihrer Reichweite in spitzen Klammern («hustend») bzw. isoliert in runden Klammern (((hustet))) notiert.anzeigen.
001 ML: oKAY; 002 SO:; 003 sie WOLlten sich ja heut zur geburt vorst[e:ll]en;=ne 004 SV: [JA. ] 005 ML: geNAU; 006 GUT. 007 °h ich WÜrde ihnen da noch so n paar (.) FRAgen stellen- 008 zur KRANkengeschichte:; 009 SV: [hmHM, ] 010 ML: [und mir] noch sachen aus dem MUTterpass (.) übetra:gen- 011 und dann (.)sprechen wir nochmal so allgeMEIN über die ge!BU:RT!- 012 °hhh geNAU;
Abb. 1: Gespräch 11 mit Hebamme (ML) und Schwangerer (SV) | Auszug aus Gesprächseröffnung (Phase A)
Gespräche in der Schwangerenberatung
Im letzten Trimester der Schwangerschaft kommen die Schwangeren in die Klinik, um sich für die Geburt anzumelden. In der Regel kennen sich Hebamme und Schwangere noch nicht. Zudem besteht in diesen Gesprächen eine Wissensasymmetrie in zwei Richtungen: Die Hebamme weiß noch nicht und will wissen, wie die Schwangerschaft bisher verlaufen ist und wie es der Schwangeren geht. Die Schwangere erfährt, was sie unter der Geburt erwartet und erhält Informationen über verschiedene mögliche Verläufe der Geburt. Zudem kann die Schwangere Fragen stellen oder Geburtspläne besprechen. Abb. 2 zeigt Hebamme, Hebammenschülerin und Schwangere aus Gespräch 11 während der Gesprächseröffnung.
Wir betrachten Verstehen und Wissen als interaktive Ressourcen in den Gesprächen und interessieren uns dafür, wie Teilnehmer*innen einander im Gespräch anzeigen, dass und wie etwas verstanden wurde und was als gemeinsames Wissen behandelt werden kann. Ein zentraler Aspekt ist dabei, wie durch verschiedene sprachliche, aber auch stimmliche und prosodische Formen die Relevanz einzelner Inhalte hergestellt und hoch- oder runtergestuft wird.
Die Gespräche sind in Bezug auf den institutionellen Rahmen, die Anamnese als Gesprächsbestandteil und insbesondere in Hinblick auf die Konstitution und Bearbeitung von Wissen, dem Paradigma der interaktionslinguistisch geprägten Forschung zu Ärzt*innen-Patient*innen-Gesprächen zuzuordnen. Trotz Ähnlichkeiten unterscheiden sich Gespräche der Schwangerenberatung jedoch in einem zentralen Aspekt von anderen Ärzt*innen-Patient*innen-Gesprächen: Unauffällig verlaufende Schwangerschaften sind keine Krankheiten, haben aber dennoch eine medizinische Dimension und besitzen das Potenzial, medizinisch relevant zu werden. Hinzu kommen verschiedene normative Diskurse zur Geburt, die mit dem Druck verbunden sein können, eine „gute Geburt“ hinzubekommen, um eine „gute Mutter“ zu sein (Rose & Schmied-Knittel 2011: 91 f.). So bilden diese Gespräche eine sehr spezifische Verbindung von Themen und Normorientierungen.
In Gespräch 20a (Abb. 3) wird ein klassischer Verlauf eines Gesprächs zur Orientierung für die Schwangere formuliert. Zwei Phasen werden explizit erwähnt. Dies sind zum einen Fragen zur Schwangerschaft (Phase B in Tab. 1) und Fragen stellen (Phase C in Tab.1).
009 MN: also erstmal würde ich ihnen jetzt ein paar FRAgen stellen–= 010 MN: =zu <<blickt BS an> ihrer KRANKengeschichte:>– 011 MN: und zur [SCHWANgersch ]aft 012 BS: [<<nickend>hmHM>,] 013 BS: ((holt einen Stift aus der Brusttasche und klickt einmal))(0.65) 014 MN: geNAU; 015 MN: UND dann– 016 MN: (0.94) 017 MN: GUcken wa mal–= 018 MN: =dann können sie dann <<blickt BS an> ja auch dann einfach ihre FRAgen stelle[n– ] 019 BS: [hmHM,] 020 MN: alles LOSwerden–
Abb. 3: Gespräch 20a mit Hebamme (MN) und Schwangerer (BS) | Auszug aus Gesprächseröffnung (Phase A)
Tab. 1 fasst den klassischen Verlauf eines solchen Gesprächs zusammen. Gerahmt wird das Gespräch von einer Gesprächseröffnung (Phase A) und dem Gesprächsabschluss (Phase D). Zentral für das Gespräch sind die in Gespräch 20a (Abb. 3) exemplarisch genannten Phasen B (dokumentengestützte Anamnese) und C (routinisiertes Gespräch). Die zweite Spalte gibt die Hauptrichtung an, in der Informationen übermittelt werden. Die Informationsrichtung kann von der Hebamme zur Schwangeren (H → S) oder von der Schwangeren zur Hebamme (S → H) verlaufen. Unter Gesprächsausschnitt wird auf die den Phasen zugeordneten Beispieltranskripte verwiesen.
Abschnitt / Gesprächsphase | Informations- richtung | Gesprächsausschnitt |
A: Gesprächseröffnung | H → S | aus Gespräch 11 und 20a (Abb. 1 und Abb. 3) |
B: dokumentengestützte Anamnese | S → H | aus Gespräch 13 (Abb. 5) |
C: routinisiertes Gespräch zu - letzte Schwangerschaft - Fragen / Wünsche - Informationen zum Tag der Geburt - Aufklärung (Wassergeburt) | S → H S → H/H → S H → S H → S | aus Gespräch 9 und 1 (Abb. 6 und Abb. 7) |
D: Gesprächsabschluss | H → S | aus Gespräch 9 (Abb. 4) |
Die Fragestellung, wie in Gesprächen der Schwangerenberatung durch die Teilnehmer*innen Verstehen, Relevanz und Wissen interaktiv hergestellt werden, gliedert sich auf in Teilprojekte, die spezifische kommunikative Praktiken zur Herstellung von Verstehen, Relevanz und Wissen in den Blick nehmen: die Themeninitiierung, das Erzählen und das Argumentieren.
Themeninitiierung
In den Gesprächen der Schwangerenberatung werden sowohl innerhalb der einzelnen Gespräche als auch gesprächsübergreifend ganz unterschiedliche Themen von verschiedenen Personen angesprochen, behandelt und weiterentwickelt (zur Themeninitiierung von Partnern der Schwangeren siehe Völker (2020)). Das Gesprächsthema besitzt zwar eine prominente Rolle für die Gesprächskonstitution; anders als das Satzthema stellt es jedoch in der Gesprächsforschung ein weitgehend ungeklärtes analytisches Konzept dar. Als „independent, usually continuous category which focusses the participants‘ attention on the conversation“ (Bublitz 1988: 16 f.) ist das Thema als kommunikativ konstituierter Gegenstand oder Sachverhalt zu verstehen, von dem in einem Gespräch(steil) fortlaufend die Rede ist. Das Gesprächsthema muss nicht immer explizit verbalisiert werden, in jedem Fall befindet es sich jedoch im aktuellen Aufmerksamkeitsbereich der Gesprächspartner*innen und trägt auf diese Weise zur Herstellung eines übergeordneten Sinnzusammenhangs bei, an dem sich die Interaktant*innen im Gespräch orientieren können (vgl. Hoffmann 2001: 350; Button & Casey 1988: 62).
Prozesse des Themenmanagements im Gespräch berühren Verfahren der interaktionalen Herstellung von Verstehen, Wissen und Relevanz im Gespräch, die im Rahmen des Gesamtprojektes betrachtet werden. Besonders der Vorgang der Themeninitiierung erscheint in dieser Hinsicht interessant: Initiierte Themen können einen neuen Schwerpunkt für das Gespräch vorgeben oder aber zu einer Abwendung vom vorherigen Fokus führen und damit darüber bestimmen, welche Inhalte im Gespräch relevant bzw. weniger relevant werden. Das Teilprojekt „Themeninitiierung in der Schwangerenberatung” fokussiert diese Zusammenhänge und setzt sich zum Ziel, die Formen und Funktionen der Themeninitiierungen zu beschreiben.
Der folgende Ausschnitt aus Abb. 4 illustriert die Initiierung eines Themas in Form einer Wunschformulierung durch die Schwangere.
1603 ML: [<<FS die Hand gebend> alles GUte ] ihnen;> 1604 FS: [<<auf ML zugehend> alles KLAR >; ] 1605 FS: <<MLs Hand schüttelnd> ja DANke >- 1606 °h ähm ham sie noTIERT?= 1607 =falls n zimmer FREI is-= 1608 =dass wir auch den AUFpreis zahlen würden, 1609 ML: <<aus dem Bild gehend> AH; 1610 MACHen [wa >; ] 1611 HT: [MACHen] wa; 1612 ML: hm[HM?] 1613 FS: [ja ] da [WÄ:R- ] 1614 ML: [schreiben] [wa AUF; ] 1615 FS: [würden wir] alles MACHen;= 1616 hauptsache n bisschen RUhe mein- 1617 ML: [JA; ] 1618 FS: [°h tochter] war ganz UNruhig;= 1619 =das andere baby hat <<gestikulierend> immer geSCHRIEN,= 1620 =und A:H >; 1621 ML: [JA:; ]
Abb. 4: Gespräch 9 mit Hebamme (ML), Hebammenschülerin (HT) und Schwangerer (FS) | Auszug aus Gesprächsabschluss (Phase D)
Der Auszug ist der Sequenz des Gesprächsabschlusses entnommen, in welchem die Hebamme zunächst durch die rituellen Glückwünsche (vgl. Werlen 2008: 1268) und das Händeschütteln die Absicht zur Gesprächsbeendigung signalisiert (Z. 1603). Die Schwangere ratifiziert diese Absicht mit einer terminierenden TCU „alles KLAR“ (Z. 1604), initiiert dann jedoch ein neues Thema, das als doorknob concern (vgl. White et al. 1994: 24; Ripke 1994: 126) bezeichnet werden kann, d. h. als Frage bzw. Anliegen, das von der Schwangeren im letzten Moment, sozusagen mit der Klinke in der Hand, gestellt wird, obwohl die Hebamme das Gespräch bereits für beendet hält (vgl. Birkner & Vlassenko 2015: 144). Auch wenn über die Ursachen und die möglicherweise negativen Auswirkungen dieses nachgeschobenen Themas auf das Zeitmanagement des medizinischen Personals keine Aussagen gemacht werden können, so wird deutlich, dass das Thema für die Schwangere von Bedeutung zu sein scheint. Sie unterstreicht den Wunsch nach einem Einzel- oder Familienzimmer im Folgenden durch begründende Ausführungen, die sich auf ihre Erfahrungen bei der letzten Geburt stützen (Z. 1615–1620). Gleich mehrfach indizieren sowohl die Hebamme als auch die Hebammenschülerin die Bewilligung des Wunsches (Z. 1611, 1614, 1617) und damit die Absicht zur thematischen Beendigung. Die Schwangere setzt sich jedoch nach einem kurzen Äußerungsabbruch (Z. 1613) über diese terminierenden Signale hinweg und platziert ihre begründende thematische Rede zum zuvor initiierten Thema. Anhand dieses Beispiels wird also deutlich, wie Schwangere – auch innerhalb der Sequenz des Gesprächsabschlusses – Themen initiieren und diese als relevant präsentieren können.
Erzählen
In den Anmeldegesprächen nimmt die Anamneseerhebung und damit die persönliche Vorgeschichte der Schwangeren einen großen Anteil ein. Dem folgenden Ausschnitt geht so beispielsweise eine Frage nach vorherigen Operationen voraus. Ob und wie an dieser und an anderen Stellen erzählt wird, bildet den Ausgangspunkt für die Analyse des Teilprojektes zu „Erzählen und Relevanzsetzung in der Schwangerenberatung“. Erzählen ist dabei zunächst definiert als „thematisiert ein Geschehen, einen zeitlichen Wandel und stellt entsprechend Ereignisse, Handlungen und Erfahrungsbilder dar, die eine temporale Veränderungsdimension beinhalten“ (Lucius-Hoene/Deppermann 2002: 143). Im folgenden Ausschnitt (Abb. 5) erzählt die Schwangere (FM) von einem Krankenhausaufenthalt im Kontext eines Autounfalls.
139 FM: ä:hm: anSONSten, 140 (2.0) ah ich hab bl irgendw äh nochmal n AUtounfall hatt ich so n drei tage krankenhausaufenthalt; 141 war aber auch nichts draMAtisches [außer paar ] platzwunden; 142 HT: [<<nickend> hm_HM;>] 143 FM: und äh die halt [äh ] [(.) ] verSORGT wurden; 144 ML: [<<abheftend> MH;>] 145 HT: [((nickt)) ] 146 FM: und ich (.) beOBachtet wurde; [°h ] 147 HT: [OKAY;] 148 ML: [hm_HM,] 149 FM: [mir ] jeden tag gesagt wurde <<Oberkörper bewegend> MORgen> können sie nach hause gehen, 150 [((lacht))] 151 HT: [((lacht))] 152 ML: ((blättert und nickt)) 153 FM: ähm anSONSten, (2.0) 154 HT: gynäkologische oh:PE:S, 155 FM: <<kopfschüttelnd> hmhm NEE;>
Abb. 5: Gespräch 13 (mit Hebamme (ML), Hebammenschülerin (HT) und Schwangerer (FM) | Auszug aus der dokumentengestützten Anamnese (Phase B)
Die Schwangere stellt die Entwicklungen des Krankenhausaufenthalts dar, indem sie einerseits Informationen zur Schwere der Verletzungen gibt (Z. 141) und andererseits Einblicke in ihr persönliches Erleben der Situation ermöglicht (S. 149). Dies hat darüber hinaus einen unterhaltenden, auflockernden Charakter, wie das Lachen der Schwangeren und Hebammenschülerin zeigen (Z. 149–150). Durch Erzählen können also „mehr und vor allem andersartige Informationen zur Sprache kommen“ (Koerfer und Köhle 2009: 126). Aus diesem Grund ist die Analyse von Erzählungen insbesondere im Kontext der Schwangerenberatung interessant. In diesem Zusammenhang ist auch der folgende Ausschnitt einer Erzählsequenz (Abb. 6) zu betrachten. So erzählt die Schwangere (FS) von den Widrigkeiten beim Stillen ihres ersten Kindes und positioniert sich damit zum Stillen und zu den Hoffnungen für die bevorstehende Zeit.
0930 FS [=ich hoffe ] DIEses mal gehts besser, 0931 also ÖHM- 0932 es hat mega WEH getan,= 0933 =und dann irgendwann: °h hat die <<zeigend> lInke > brust dann keine MILCH mehr gegeben,= 0934 =ich weiß AU nich warum,= 0935 =dann hatt ich [((hält die Hände in unterschiedlichem Abstand zur Brust))] [verSCHIEden große-] 0936 ML [hmHM ] 0937 HT [hehe ] 0938 FS und nur die EIne hat mi-= 0939 =da hab ich aber TROTZdem WEIter gemacht–=
Abb. 6: Gespräch 9 mit Hebamme (ML), Hebammenschülerin (HT) und Schwangerer (FS) | Auszug aus routinisiertem Gespräch (Phase C)
In diesem Ausschnitt aus einem Teil des routinisierten Gesprächs erzählt die Schwangere von ihrem persönlichen Erleben der vergangenen Postpartum-Phase. Sie setzt das Erzählte dabei auch gestisch um (Z. 933/934). Erzählsequenzen wie diese sind gerade mit Blick darauf relevant, dass sie im Kontext des Besprechens eines zukünftigen Ereignisses erfolgen. Vergangene Erlebnisse und Erfahrungen sind somit auch zur Planung bevorstehender Ereignisse – wie beispielsweise Geburten und Postpartum-Phasen – von Bedeutung und daher Thema dieses Teilprojektes.
Argumentieren
Argumentieren ist ein Verfahren, das eng mit der Herstellung von kommunikativer Rationalität und der Legitimation von Entscheidungen verbunden ist. Ausgehend von Kleins Definition von Argumentation als dem „Überführen von etwas kollektiv Fraglichem in etwas kollektiv Geltendes mit Hilfe etwas kollektiv Geltendem“ (1980: 19) hat Argumentation (mindestens) zwei Funktionen: Die Bearbeitung von Dissens und die Herstellung von Wissen (Hannken-Illjes 2018: 19–21). Diesem Verständnis folgend ist die Frage, ob und wie in Gesprächen der Schwangerenberatung argumentiert wird, auch von ethischer Bedeutung, da argumentative Sequenzen (auch) dazu dienen, bei unterschiedlichen Positionen – aktuell oder latent – einen common ground zu etablieren, um dann auch eine gemeinsame Entscheidungsfindung zu ermöglichen. Trotz dieser Bedeutung ist Argumentieren in Arzt-Patienten Gesprächen bisher kaum in den Blick genommen worden (vgl. Bigi 2018: 153). Zudem nutzen Arbeiten, die sich explizit dem Argumentieren in Arzt-Patienten Gesprächen widmen, in erster Linie einen normativen Argumentationsbegriff (vgl. Rothenfluh/Schulz 2016: 5f.). Eine deskriptive, gesprächsanalytische Herangehensweise kann aber zum einen besser untersuchen, welche Funktion Argumentieren und Begründen in den Gesprächen der Schwangerenberatung haben kann, und kann zum anderen konzeptionell dazu beitragen die Spezifika mündlichen Argumentierens klarer zu fassen.
Argumentieren im Gespräch ist eng mit der Aktualisierung und Herstellung von Wissen verbunden. Diese epistemische Funktion von Argumentation zeigt sich in der Funktion des Übergangs von Grund zu Konklusion, dem Topos. Sie bleibt in den meisten Fällen implizit, aktualisiert aber für die Interaktion, was als common ground behandelt werden kann. Der folgende Ausschnitt zeigt eine solche argumentative Sequenz.
507 ML =°h aber sie WÜRden jetzt AUch wieder > <<zu HA aufblickend> stillen wollen >; 508 ML <<zu HA blickend> noch mal proBIEren [(wollen) >; ] 509 HA [<<nickend> JA >. ] 510 ML <<den Blick in die Unterlagen richtend> JA >? 511 A (0.51) 512 ML <<zu HA blickend> wahrscheinlich eh jetzt [is ja auch ne and ]ere situaTI[ON;=] 513 HA [((räuspert sich)) ] 514 HA [j ] [a is_n bisschen ANders;=ja. ] 515 ML [=n anderes KIND;=und– ] 516 ML ne >; 517 A (0.16) 518 HA h[m ] 519 ML [<<den Blick in die Unterlagen richtend> J ]A: >; 520 A (0.33) 521 ML °h ((schreibt, 1.03s)) 522 HA <<auf den Tisch blickend> also ich setz mich da wenn_s GEHT geht_s wenn nich dann nIch >. 523 HA he 524 ML <<in die Unterlagen blickend> JO:– 525 ML [geNA]U;= 526 HA [he ] 527 ML =aber proBIEren k[ann man_s ja;=] 528 HA [h ][m:, ] 529 ML [=auf ]JEden fall; 530 ML geNAU >;
Abb. 7: Gespräch 1 mit Hebamme (ML), Hebammenschülerin (MK), Schwangerer (HA) und Partner (TA) | Auszug aus routinisiertem Gespräch (Phase C)
Dieser Ausschnitt schließt an eine Passage an, in der Hebamme und Schwangere über die letzte Schwangerschaft und die Schwierigkeiten des Stillens reflektieren. Z. 507 stellt einen Kontrast her zwischen zwei Handlungsoptionen: Wieder zu stillen trotz der letzten Schwangerschaft oder nicht zu stillen, eben wegen dieser Erfahrung. Interessant, und zugleich recht häufig in den Gesprächen, ist, dass kein lokaler Dissens im Gespräch vorliegt. Nach der Herstellung des Kontrasts, ratifiziert die Schwangere, dass sie es noch mal „proBIEren“ (Z.508) will. Diese Ratifizierung wird von der Hebamme aufgenommen und noch einmal problematisiert, durch ein „JA >?“ mit steigender Intonation. Nach einer etwas längeren Pause fügt die Hebamme dann eine Begründung an: „is ja auch ne and ]ere situaTI[ON;=“ Als Argument ließe sich hier rekonstruieren: Man soll auch nach schlechten Erfahrungen noch einmal probieren zu stillen, da diese Schwangerschaft anders ist als die vorhergehende. Dem Argument liegt als formaler Topos ein Vergleichstopos zu Grunde, indem es die Ungleichheit zweier ähnlicher Situationen herausstellt. Der materiale Topos lässt sich als Unvergleichbarkeit fassen. Interessant ist, dass dieser Topos der Unvergleichbarkeit in vielen Gesprächen in argumentativen Sequenzen aufgenommen wird.
Deutlich wird in diesem Beispiel zweierlei: Zum einen ist Argumentieren ein zentrales Verfahren für die Herstellung von gemeinsamem Wissen, in der einzelnen Interaktion ebenso wie in gesellschaftlichen Aushandlungsprozessen und die Argumentationsanalyse kann Hinweise darauf geben, was von den Teilnehmer*innen als gemeinsames Wissen behandelt wird. Zum anderen schärft die Analyse das Konzept von Argumentation und Argumentieren im Gespräch, die ein häufig an schriftlichen, längeren Texten Konzept von Argumentieren komplementiert durch die Spezifika mündlicher Argumentation im Gespräch.
Ausblick
Aufbauend auf ersten Analyseergebnissen erarbeiten wir momentan praktikable Handreichungen zur Gesprächsführung. Die Analysen zum Bereich „Argumentieren“ starten 2022 mit dem DFG Projekt „Argumentieren und Wissen in der Schwangerenberatung“, das bis 2025 läuft. Die im Projekt angesiedelten Dissertationen „Erzählen und Relevanzsetzung in der Schwangerenberatung“ und „Themeninitiierung in der Schwangerenberatung“ werden 2023 abgeschlossen.
Literatur
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Diesen Beitrag zitieren als:
Hannken-Illjes, Kati, Giessler, Tanja, Honegger, Sara, Kleschatzky, Elisabeth und Ina Völker. 2022. Schwangere beraten: Verstehen, Relevanzsetzung und Wissen in Gesprächen der Schwangerenberatung. Sprachspuren: Berichte aus dem Deutschen Sprachatlas 2(11). https://doi.org/10.57712/2022-11