Ihre Merkmale sind auf allen sprachlichen Ebenen zu finden,
dennoch führen sie in der Regel nicht zu Verstehbarkeitsproblemen,
sie bilden eine eigene Sprechlage, die von der Sprachgemeinschaft zum Beispiel mit “Hochdeutsch” oder “Mischmasch” bezeichnet wird – die Rede ist von Regionalakzenten.
Wer versucht, möglichst standardnah zu sprechen, verwendet meist weniger regionale Merkmale und ist überregional verstehbar. Regionale Besonderheiten lassen sich trotzdem finden: In der Oberpfalz hört man schnell ein „Apfelbäumerl“ (= Apfelbäumchen) und in Brandenburg sagt man „Mülsch“ (= Milch). Eben solche Besonderheiten machen die Regionalakzente in Deutschland aus. Man hört sie nicht nur in den Dialekten, sondern auch in der regional gefärbten Alltagssprache, z. B. in formellen Situationen oder beim Vorlesen. Aus objektsprachlicher Sicht umfasst der Regionalakzent eine eigene Sprechlage, die der Standardsprache besonders nah ist. Welche sprachlichen Merkmale die Regionalakzente in Deutschland kennzeichnen, ist im Rahmen eines Teilprojekts des Akademie-Forschungsprojekts Regionalsprache.de (REDE) ausgewertet worden. Die Ergebnisse sind auf der Plattform Regionalakzente in Deutschland präsentiert.
Die Datengrundlage
Bei der Auswertung wurden Aufnahmesituationen von insgesamt 100 männlichen Gewährspersonen berücksichtigt. Die Gewährspersonen verteilen sich dabei auf die zwei Sprechergruppen G1 und G2 mit je 50 Sprechern (vgl. Tabelle 1).
Sprechergruppen | |
G1 | über 65 Jahre, überwiegend manuell berufstätig |
G2 | 45–55 Jahre, Polizeibeamte |
Von jeder Gewährsperson wurden zwei Aufnahmesituationen ausgewertet: Vorleseaussprache und Übersetzungsaufgabe. Bei der Vorleseaussprache wurde den Gewährspersonen die Fabel Nordwind und Sonne vorgelegt, die sie laut vorlesen mussten. Bei der Übersetzungsaufgabe wurden Aufnahmen der 40 Wenkersätze im jeweiligen Ortsdialekt vorgespielt, die möglichst standardnah übersetzt werden sollten.
Für die Auswertung und Ergebnispräsentation der Regionalakzente in Deutschland wurde die in Abbildung 1 dargestellte Raumstruktur berücksichtigt (vgl. Lameli 2013, 194): nördliches Niederdeutsch, südliches Niederdeutsch, Brandenburgisch, Westdeutsch, westliches Mitteldeutsch, Ostmitteldeutsch, Ostfränkisch, Alemannisch (Westoberdeutsch) und Bairisch.
Jeder dieser Räume wird auf einer eigenen Raum-Seite vorgestellt, die unter dem Reiter Raumauswahl ausgewählt werden kann. Die Raum-Seiten folgen dabei alle dem gleichen Aufbau und umfassen die Abschnitte Selbsteinschätzung, Raum im Überblick (mit raumtypischen Lautmerkmalen), Lautliche Merkmale, Morphologische Merkmale sowie weiterführende Literatur und Vorschläge zur Zitation. Zusätzlich ist auf jeder Raum-Seite ein kurzer Hintergrundtext zu finden, der neben Angaben zu den Erhebungsorten und Gewährspersonen auch geografische Besonderheiten oder weitere Dialekteinteilungen zusammenfasst.
Zur lautlichen Variation in den Regionalakzenten
Einen schnellen Überblick über die typischen lautlichen Merkmale im Regionalakzent eines Raums erhält man in der Übersichtstabelle im Abschnitt Raum im Überblick. In der Übersichtstabelle werden die typischen Lautmerkmale differenziert nach Vokalen, Konsonanten und Nebensilben in IPA-Notation angegeben. Abbildung 2 zeigt die Übersichtstabelle für den Raum Westdeutsch mit typischen Lautmerkmalen und Beispielen im Konsonantismus. In der Spalte ganz links wird jeweils der standardsprachliche Bezug genannt und in der Spalte “regionale Realisierung” sind die regionalen Varianten des ausgewählten Raums gelistet. Alle Symbole, die gemeinsam in einer eckigen Klammer (“[ ]”) stehen, können einem Realisierungsbereich zugeordnet werden. So wird standardsprachliches /f/ im westdeutschen Regionalakzent typischerweise als langes [fː] wie in Affe oder Pfeffer realisiert oder als stimmhaftes [v] wie in Ofen oder geschlafen. Sowohl die Realisierungsbereiche als auch die dazugehörigen Beispiele sind durch ein Semikolon voneinander getrennt.
Welche typischen Varianten in welchem Raum zu finden sind und ob die Verteilung der Varianten eine Raumstruktur erkennen lässt, wird im Folgenden kurz am Beispiel von anlautendem /ɡ/ demonstriert. Ein Blick in die Übersichtstabellen der Raum-Seiten zeigt schnell, dass anlautendes /ɡ/ im nördlichen Niederdeutschen, Westdeutschen, westlichen und östlichen Mitteldeutschen sowie im Bairischen typischerweise als [k] realisiert wird (vgl. Abbildung 3 beispielhaft für das nördliche Niederdeutsche): Hier hört man also “kroß” (= groß). Im südlichen Niederdeutschen, Brandenburgischen und Alemannischen hingegen sind für anlautendes /ɡ/ keine regionalen Varianten belegt – anlautendes /ɡ/ wird in diesen Räumen also typischerweise standardsprachlich realisiert. Damit tritt die Varianten [k] für anlautendes /ɡ/ in fast doppelt so vielen Räumen auf wie standardsprachliches [ɡ]. Im Ostfränkischen wird anlautendes /ɡ/ typischerweise als entstimmtes [ɡ̊] realisiert. Damit nimmt diese Variante eine Art Zwischenposition der angrenzenden stimmlosen Variante [k] im Bairischen sowie dem westlichen und östlichen Mitteldeutschen ein und der von [ɡ̊] südwestlich gelegenen stimmhaften Variante [ɡ] im Alemannischen (vgl. Abbildung 4 für das Ostfränkische und Abbildung 1 zur Raumstruktur).
Bei der räumlichen Verteilung der Varianten [ɡ] und [k] wird deutlich, dass eine standardsprachliche Realisierung ([ɡ]) ausschließlich in einem Streifen in der nördlichen Hälfte und ganz im Südwesten des Untersuchungsgebiets vorkommt. Im restlichen Untersuchungsgebiet, ausgenommen des Ostfränkischen, wird [k] realisiert.
Ein Höreindruck über die Varianten von anlautendem /ɡ/ und weiteren typischen Lautmerkmalen der einzelnen Räume kann in den Abschnitten Vorlesesprache und Übersetzungsaufgabe der Raum-Seiten gewonnen werden. Beim Klick auf die hervorgehobenen Wörter werden kurze Audio-Ausschnitte abgespielt. Links neben der Wiedergabeleiste sind der Untersuchungsort und die entsprechende Sprechergruppe (G1 oder G2) angegeben (vgl. Abbildung 5). Dabei enthält jedes Wort mindestens ein typisches Lautmerkmal im Regionalakzent des ausgewählten Raums, das auch in der entsprechenden Übersichtstabelle wiederzufinden ist.
Sämtliche lautliche Varianten eines Raums werden im Abschnitt Variantenerfassung unter Lautliche Merkmale präsentiert. In den umfangreichen Übersichten sind differenziert nach Ort, Dialektgruppe (innerhalb des Raums), Generation (i.e. Sprechergruppe), Lautbereich (Vokale, Konsonanten, Nebensilben), standardsprachlichem Bezugslaut, regionaler Realisierung und Belegwörtern alle lautlichen Varianten im Regionalakzent eines Raums tabellarisch zusammengeführt (vgl. Abbildung 6 für den Raum Bairisch). Über die Filterfunktion können die Daten individuell – beispielsweise nach Lautbereich, Ort oder Sprechergruppe – extrahiert und für weitere Analysen ausgewertet werden.
Eine Gesamtdatei (Open Source) mit allen lautlichen Varianten in allen Räumen steht auf der Startseite der Plattform unter Download zur Verfügung. Der Datensatz richtet sich an alle Interessierten, Wissenschaftler*innen und Sprachforensiker*innen. So haben sich in der Sprachforensik unter anderem raumvergleichende Analysen bewährt, um die Herkunft einer Sprecherin oder eines Sprechers herauszufinden.
Und? Hört man’s? Zur Salienz typischer Lautmerkmale
Wie salient, das heißt wie auffällig, typische Lautmerkmale der Räume bewertet werden, wird im Abschnitt Hochfrequente Merkmale und ihre Salienz der Raum-Seiten vorgestellt. Die Ergebnisse gehen auf Untersuchungen von Kiesewalter (2011; 2019) zurück, die mittels einer Farbskala von gelb (0 = nicht auffällig/standardkonform) bis dunkelrot (4 = höchste Auffälligkeit) die Salienzbewertungen wiedergeben (vgl. Abbildung 7 für das Ostfränkische). Zur Ermittlung der Salienz wurden von Kiesewalter Hörtests in unterschiedlichen Orten durchgeführt, die den Großräumen Nordddeutsch, Mitteldeutsch und Oberdeutsch zugeordnet wurden.
Die Salienzbewertungen für die Räume nördliches Niederdeutsch, südliches Niederdeutsch und Brandenburgisch werden in jeweils zwei Tabellen präsentiert. Eine Tabelle gibt die Salienzbewertungen der raumspezifischen Lautmerkmale wieder. In der zweiten Tabelle sind die Salienzbewertungen von gemeinsamen Lautmerkmalen in allen drei Räumen, i. e. typischen Merkmalen des gesamten norddeutschen Sprachraums, angegeben. Hierzu zählt auch das Merkmal Verdumpfung von /a(ː)/ (vgl. Abbildung 8).
Wie unterschiedlich salient typische Lautmerkmale bewertet werden, soll am Beispiel des Merkmals Verdumpfung von /a(ː)/ illustriert werden. Die velarisierte („verdumpfte“) Realisierung von standardsprachlich /a(ː)/ wie in sagen (“sogen”) oder Mantel (“Montel”) ist ausgenommen der Räume Westdeutsch und östliches Mitteldeutsch ein typisches Merkmal in den Regionalakzenten (vgl. auch die Übersichtstabellen der Raum-Seiten). Dabei fällt auf, dass die Salienz dieses Merkmals im mitteldeutschen Raum, also dort, wo das Merkmal nicht typisch ist, höher bewertet wird als im nord- und oberdeutschen Raum. So wird im Norddeutschen das Merkmal Verdumpfung von /a(ː)/ mit einer mäßigen Auffälligkeit von 2 im Vergleich am niedrigsten bewertet. Im Oberdeutschen wird das Merkmal mit einer hohen Auffälligkeit von 3 bewertet. Wohingegen im Mitteldeutschen die Verdumpfung von /a(ː)/ den höchstmöglichen Salienzwert von 4 erreicht (vgl. Abbildungen 8 und 9).
Die Salienz des Merkmals Verdumpfung von /a(ː)/ wird also dort am höchsten bewertet, wo es kein typisches Merkmal im Regionalakzent ist.
Einladung zur Entdeckungstour
Die Plattform Regionalakzente in Deutschland zeigt allerdings noch mehr: Neben der lautlichen Variation in den Regionalakzenten wird auch deren Variation in der Formenbildung (z.B. ich glaube oder ich glaub’, Vögelchen oder Vogerl) dokumentiert. Darüber hinaus sind im Reiter Gewährspersonen Informationen zu den Berufen und den Geburtsjahren der Gewährspersonen zusammengetragen. Im Reiter Subjektive Konzepte kann man erfahren, wie die Gewährspersonen ihre eigene Sprache zu unterschiedlichen Anlässen bezeichnen. Und im Reiter Aggregation wird eine Raumgliederung auf Grundlage statistischer Methoden vorgenommen, die eine hohe Deckung der Regionalakzente-Räume mit den traditionellen Dialekträumen zeigt. Einen hilfreichen Überblick zum Aufbau der Plattform und eine Zusammenschau der wichtigsten Inhalte gibt zusätzlich das Video-Tutorial von Dennis Beitel.
Ob lautliche oder morphologische Merkmale, subjektsprachliche oder objektsprachliche Daten, statistische oder deskriptive Zugänge – die Plattform Regionalakzente in Deutschland bietet eine umfassende Datengrundlage zum Erkunden und Auswerten für die Forschung und für alle Linguistik-Fans!
Literatur
Kiesewalter, Carolin (2011): Salienz und Pertinenz. Zur subjektiven Dialektalität remanenter Regionalismen des Mittelbairischen. DOI: https://doi.org/10.13092/lo.66.1575.
Kiesewalter, Carolin (2019): Zur subjektiven Dialektalität regiolektaler Aussprachemerkmale des Deutschen. Stuttgart. (Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik. Beihefte 179).
Lameli, Alfred (2013): Strukturen im Sprachraum Analysen zur arealtypologischen Komplexität der Dialekte in Deutschland. Berlin/Boston. (Reihe Linguistik – Impulse & Tendenzen. Band 54).
REDE = Schmidt, Jürgen Erich/Herrgen, Joachim/Kehrein, Roland/Lameli, Alfred (Hrsg.): Regionalsprache.de (REDE III). Forschungsplattform zu den modernen Regionalsprachen des Deutschen. Bearbeitet von Robert Engsterhold, Hanna Fischer, Heiko Girnth, Simon Kasper, Juliane Limper, Georg Oberdorfer, Tillmann Pistor, Anna Wolańska. Unter Mitarbeit von Dennis Beitel, Milena Gropp, Maria Luisa Krapp, Vanessa Lang, Salome Lipfert, Jeffrey Pheiff, Bernd Vielsmeier. Studentische Hilfskräfte. Marburg: Forschungszentrum Deutscher Sprachatlas. 2020ff.
Diesen Beitrag zitieren als:
Lipfert, Salome. 2023. Regionalakzente in Deutschland. In: Sprachspuren: Berichte aus dem Deutschen Sprachatlas 3(9). https://doi.org/10.57712/2023-09