Von 2019 bis 2023 wurde an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg das Projekt „Akustische Indikatoren für Sprachdominanz bei Sprechern und Sprecherinnen des Hoch- und Niederdeutschen in Ostfriesland“ durchgeführt (gefördert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft, Projektnr. PE 793/3–1). Im vorliegenden Beitrag werden die Ziele des Projekts sowie die zentralen Ergebnisse vorgestellt.
Hinführung
Vergleicht man die Umfragen zur Plattdeutschkompetenz der letzten Jahrzehnte, so wird der Rückgang bei der aktiven Sprachkompetenz deutlich: Während 1984 noch 35 % der Befragten angaben, Plattdeutsch „gut“ oder „sehr gut“ zu sprechen (Stellmacher 1987), waren es 2007 noch 14,3 % (Möller 2008) und 2016 noch 15,7 % (Adler et al. 2016). Der Vergleich der letzten beiden Prozentwerte legt nahe, dass der Abbauprozess zum Erliegen gekommen ist und sich die Sprachkompetenz auf einem stabilen niedrigen Niveau eingependelt haben könnte. Vergleicht man in der Studie von 2016 jedoch die Altersgruppen der Befragten miteinander, so wird deutlich, dass der Prozess weiter voranschreitet: Während noch 50,7 % der über 80-Jährigen angeben, Plattdeutsch „gut“ oder „sehr gut“ sprechen zu können, sind es bei den 50–59-Jährigen noch 13,7 % und bei den unter 20-Jährigen 0,8 %. Auch regional zeigen sich große Unterschiede mit einem Nord-Süd-Gefälle.
Projektziele
Die Ausgangsfrage des hier vorgestellten Projekts lautete „Wie steht es um die Zukunft des Plattdeutschen?“. Im bisherigen, traditionellen Ansatz wurde dabei die Frage gestellt, wie „gut“ vor allem Sprecher*innen der jüngeren Generation noch Platt sprechen. Dabei wurden in der bisherigen Forschung zwei Untersuchungsansätze berücksichtigt:
1. Subjektive Messung: Die subjektive Messung der Sprachkompetenz erfolgt mittels Selbsteinschätzung in Umfragen wie den oben erwähnten. Die Zuverlässigkeit dieser selbst eingeschätzten Sprachkompetenz anhand subjektiver Maßstäbe ist jedoch problematisch.
2. Objektive Messung: Bei der objektiven Messung wird geprüft, wie „gut“ Wortschatz, Grammatik und Aussprache sind. Während dies beim Erwerb von standardisierten Sprachen sehr gut funktioniert, stellt sich bei einer nicht-standardisierten Sprache wie dem Plattdeutschen die Frage, welcher Maßstab für diese Sprachen anzusetzen ist. Was genau gilt als „gutes“ Platt? Und welche Rolle spielen Sprachmischung und Sprachabbau?
Bei beiden Ansätzen ist unklar, welche Aussagekraft (subjektive und objektive) Kompetenzerhebungen für die Einschätzung des Gefährdungsgrades bedrohter Sprachen haben. Kann von einer hohen Sprachkompetenz darauf geschlossen werden, dass das Plattdeutsche auch an die nächste Generation weitergegeben wird?
Das Forschungsprojekt ging von der Annahme aus, dass eine hohe Sprachkompetenz allein nicht die Weitergabe des Plattdeutschen an künftige Generationen garantiert. Ein anderer Faktor muss zusätzlich berücksichtigt werden: Wie anstrengend ist der Gebrauch des Plattdeutschen für die Sprecher*innen, d. h., wie hoch ist die kognitive Belastung beim Sprachgebrauch?
Die Projektziele umfassten somit die Messung der Sprachbeherrschung sowohl im Sinne von Sprachkompetenz als auch im Sinne der Anstrengung, die mit dem Gebrauch des Plattdeutschen verbunden ist. Die Sprachkompetenz wurde gemessen, indem überprüft wurde, inwieweit das heutige Platt dem Platt ähnelt, das vor 140 Jahren in der Fragebogenerhebung von Georg Wenker dokumentiert wurde. Bezogen auf die Anstrengung beim Sprechen wurde auf Ergebnisse der kognitiven Psychologie und der Mehrsprachigkeitsforschung zurückgegriffen (für eine Übersicht vgl. Pyfrom et al. 2023 und Peters et al. 2023). Demnach lässt sich beim Gebrauch einer nur mäßig beherrschten Fremd- oder Zweitsprache eine erhöhte kognitive Belastung und eine damit einhergehende erhöhte Anstrengung nachweisen. Indikatoren hierfür sind z. B. eine geringere Redeflüssigkeit sowie eine Änderung der Stimmqualität.
Zusammengefasst stellten wir uns bei der Untersuchung des Gebrauchs von Platt und Hochdeutsch in Ostfriesland die folgenden Fragen: Nimmt die Dominanz des Plattdeutschen von der älteren zur jüngeren Generation hin ab? Wie hoch ist die Plattdeutschkompetenz in der jüngeren Generation im Vergleich zum ausgehenden 19. Jahrhundert? Zeigt sich in der jüngeren Generation beim Gebrauch des Plattdeutschen eine höhere kognitive Belastung als beim Gebrauch des Hochdeutschen? Und nimmt dieser Unterschied mit zunehmendem Alter der Sprecher*innen und mit zunehmend ausgeglichener Zweisprachigkeit ab? Hinweise darauf werden im Bereich der Redeflüssigkeit und von Merkmalen der Stimmqualität, die auf größere Anspannung der laryngealen Muskulatur hindeuten, erwartet.
Anlage der Untersuchung
Als Untersuchungsgebiet in Ostfriesland diente die Gemeinde Krummhörn, die aus 19 Dörfern besteht. Die Krummhörn liegt an der Westküste Ostfrieslands nordwestlich von Emden und dort leben rund 12.000 Einwohner*innen. Die einzelnen Dörfer in der Krummhörn wiesen in einer Umfrage von Strybny (2009) unter Schüler*innen bezüglich der Aussage „Ich spreche plattdeutsch“ Werte zwischen 16,2 % (Loquard) und 94,4 % (Manslagt) auf (durchschnittlich ca. 40 %), somit kann in dieser Region noch von einem großen Anteil bilingualer Sprecher*innen ausgegangen werden.
Im Projekt wurden Daten von 95 bilingualen Sprecher*innen aus einer großen Altersspanne (15 bis 88 Jahre, Altersdurchschnitt 54 Jahre) erhoben. Alle befragten Personen sind in der Krummhörn mit beiden Sprachen aufgewachsen.
Im Rahmen eines soziolinguistischen Interviews wurden pro Sprache vier Aufgaben mit verschiedenen Schwierigkeitsgraden absolviert (1. Monolog: freies Erzählen über den Heimatort oder den Alltag; 2. Nacherzählen einer Bildergeschichte; 3. Wegbeschreibung; 4. Lesetext). Zusätzlich erfolgte die Übersetzung von ausgewählten Wenkersätzen ins Plattdeutsche, die Aufzählung der Wochentage in beiden Sprachen sowie der Zahlen von 1 bis 10, ebenfalls in beiden Sprachen. Zusätzlich wurde über einen umfangreichen Fragebogen die Sprachbiographie der Sprecher*innen abgefragt.
Ergebnisse
1. Sprachdominanz
Mit dem Begriff der Sprachdominanz erfassen wir die Präferenz einer Sprache gegenüber einer anderen in alltäglichen Sprechsituationen und die damit verbundene Selbstsicherheit beim Sprechen. Die Sprachdominanz ergibt sich nicht allein aus der Erwerbsabfolge oder der Gebrauchsfrequenz, sondern sie umfasst einerseits die Sprachkompetenz, die grammatische Fähigkeiten und Sprachgewandtheit beinhaltet, sowie andererseits den sprachlichen Input der Umgebung und den eigenen Sprachgebrauch (Montrul 2016). Sie dient als Instrument zur Untersuchung der Asymmetrie im Bilingualismus mehrsprachiger Sprecher*innen. Die Sprachdominanz kann mittels eines Fragebogens zur Selbsteinschätzung der eigenen Plattkompetenz und des Plattdeutschgebrauchs ermittelt werden (in Anlehnung an Birdsong et al. 2012 und Poarch et al. 2019).
Aus den Fragebogenantworten zu Erwerbsalter, Sprachgebrauch und selbst eingeschätzter Sprachkompetenz wurde pro Sprecher*in ein Sprachdominanz-Wert berechnet. Die Ergebnisse zeigten eine deutliche Korrelation der Sprachdominanz mit dem Alter. Je jünger die Sprecher*innen waren, umso mehr dominierte das Hochdeutsche. Ältere Sprecher*innen sind eher ausgeglichen bilingual.
2. Sprachkompetenz
Im traditionellen Zugang der Kompetenzerhebung wurden die historischen Wenkerbögen mit den Übersetzungen unserer Sprecher*innen verglichen (siehe Frank et al. eingereicht). In der historischen Erhebung lag der Anteil plattdeutscher Übersetzungen noch bei 97,6 %, bei unseren Sprecher*innen ist dieser Anteil um ca. 10 % auf 87,3 % gesunken. Einzelne Phänomene waren stark rückläufig (bspw. der s‑pitze S‑tein), die meisten wiesen allerdings eine erstaunliche Stabilität auf. Bei den modernen Daten zeigte sich ein Zusammenhang mit der Sprachdominanz und dem Alter der Sprecher*innen: Je jünger bzw. je hochdeutsch-dominanter, desto weniger Merkmale werden plattdeutsch realisiert. Für eine Person, die ein mittleres Alter von 54 Jahren aufweist, lässt sich eine Wahrscheinlichkeit von etwa 98 % „plattdeutscher“ Varianten errechnen. Im Schnitt nimmt dieser Anteil pro Lebensjahrzehnt um ca. 5 % ab, während er bei älteren Sprecher*innen auf stabil hohem Niveau liegt.
3. Akustische Indikatoren
Im Sprachsignal können verschiedene akustische Parameter gemessen werden, die mit erhöhter kognitiver Belastung assoziiert sind. Wie erwähnt sind diese Messwerte beim Gebrauch von Fremdsprachen und bei Bilingualen bereits gut untersucht. Berücksichtigt wurden verschiedene Parameter der Redeflüssigkeit sowie der Stimmqualität einschließlich Stimmhöhe und ‑umfang.
Redeflüssigkeit: Jüngere und weniger hochdeutsch-dominante Sprecher*innen verwendeten im Plattdeutschen mehr und längere Pausen. Teilweise zeigten sie auch eine langsamere Artikulationsrate (siehe Rohloff et al. eingereicht).
Stimmqualität: In der weniger dominanten Sprache und bei jüngeren Sprecher*innen zeigte sich eine erhöhte Stabilität der Stimmlippenschwingung (weniger Jitter und Shimmer), weniger Geräuschanteile in der Stimme (erhöhte Harmonics-to-Noise-Ratio) und eine geringere Tendenz zur Knarrstimme (creaky voice, siehe Peters et al. 2023). Bei allen Sprecher*innen zeigte sich im Plattdeutschen eine ausgeprägtere periodische Komponente (indiziert durch erhöhte Cepstral Peak Prominence) sowie eine höhere Rate der Stimmlippenschwingung (erhöhte Stimmhöhe/Sprechgrundfrequenz), unabhängig vom Alter oder der Sprachdominanz. Für die Variabilität der Stimmhöhe und des Stimmumfangs zeigten sich keine eindeutigen Effekte.
Zur Zukunft des Plattdeutschen in Ostfriesland
Ostfriesland und insbesondere die Krummhörn verfügen noch über relativ gute Voraussetzungen für den Erhalt des Plattdeutschen. Die Sprachkompetenz in den Übersetzungsdaten ist immer noch sehr hoch und das Plattdeutsche ist noch weit verbreitet.
Allerdings zeigten sich in den akustischen Auswertungen auch Hinweise auf eine höhere kognitive Belastung beim Sprechen des Plattdeutschen. Plattdeutschsprechen fiel insbesondere vielen Jüngeren bereits schwerer als der Gebrauch des Hochdeutschen, auch solchen, die noch eine relativ hohe Sprachkompetenz aufweisen. Beim Gebrauch von Plattdeutsch als weniger dominante Sprache konnten eine Verringerung der Redeflüssigkeit und Änderungen stimmlicher Eigenschaften nachgewiesen werden, wie sie für den Fremdsprachgebrauch und allgemein bei erhöhter kognitiver Belastung berichtet wurden.
Die akustische Analyse stimmlicher Merkmale scheint somit ein vielversprechendes Instrument zu sein, um abzuschätzen, wie schwer der jüngeren Generation das Plattsprechen fällt. Damit liefert sie wichtige Informationen für die Beurteilung der Vitalität des Plattdeutschen in einer lokalen Sprachgemeinschaft. Wenn der Gebrauch des Plattdeutschen mit einer erhöhten kognitiven Anstrengung einhergeht, ist es weniger wahrscheinlich, dass diese Sprache als Familiensprache etabliert oder auf andere Weise an zukünftige Generationen weitergegeben wird. Dies unterstreicht die Bedeutung der Förderung des Plattdeutschgebrauchs in KiTas und Schulen, die in den letzten Jahren in Niedersachsen, Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern auf den Weg gebracht wurde. Damit Plattdeutsch auch in der jüngeren Generation als Regionalsprache verankert bleibt, wird der Gebrauch des Plattdeutschen aber in allen Lebensbereichen gefördert werden müssen.
Literatur
Adler, Astrid / Christiane Ehlers / Reinhard Goltz / Andrea Kleene / Albrecht Plewnia. 2016. Status und Gebrauch des Niederdeutschen 2016. Erste Ergebnisse einer repräsentativen Erhebung. Mannheim: Eigenverlag des Instituts für Deutsche Sprache.
Birdsong, David / Libby M. Gertken / Mark Amengual. 2012. Bilingual Language Profile. An Easy-to-Use Instrument to Assess Bilingualism. URL: <https://sites.la.utexas.edu/bilingual/> [14.02.2024].
Frank, Marina / Tio Rohloff / Jörg Peters. Eingereicht. Wandel und Stabilität der Sprachkompetenz in Übersetzungsdaten: Eine Variablenanalyse niederdeutscher Wenkersätze. In: Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik.
Möller, Frerk. 2008. Plattdeutsch im 21. Jahrhundert. Bestandsaufnahme und Perspektiven. Leer: Schuster (Schriften des Instituts für Niederdeutsche Sprache. 34).
Montrul, Silvina. 2016. Dominance and proficiency in early and late bilingualism. In: Silva-Corvalán, Carmen / Jeanine Treffers-Daller (Hg.). Language Dominance in Bilinguals. Issues of Measurement and Operationalization. Cambridge: Cambridge University Press, 15–35.
Peters, Jörg / Marina Frank / Tio Rohloff. 2023. Effects of cognitive load on vocal fold vibratory patterns in bilingual speakers of Low and High German. In: Journal of Voice. Preprint. DOI: <https://doi.org/10.1016/j.jvoice.2023.09.016>.
Poarch, Gregory J. / Jan Vanhove / Raphael Berthele. 2019. The effect of bidialectalism on executive function. In: International Journal of Bilingualism, Vol. 23, Issue 2, 612–628. DOI: <https://doi.org/10.1177/1367006918763132>.
Pyfrom, Mary / Jennifer Lister / Supraja Anand. 2023. Influence of Cognitive Load on Voice Production: A Scoping Review. In: Journal of Voice. Preprint. DOI: <https://doi.org/10.1016/j.jvoice.2023.08.024>.
Rohloff, Tio / Marina Frank / Jörg Peters. Eingereicht. Fluency measures as indicators of language dominance in bilingual speakers of Low and High German. In: International Journal of Bilingualism.
Stellmacher, Dieter. 1987. Wer spricht Platt? Zur Lage des Niederdeutschen heute. Eine kurzgefaßte Bestandsaufnahme. Leer: Schuster (Schriften des Instituts für Niederdeutsche Sprache. 14).
Strybny, Joachim. 2009. Plattdeutsche Sprachlandschaften in Ostfriesland. Auffinden sozial definierter Sprachräume über einen Index der Sprachverwendung. Ermittelt über eine Befragung der Jahrgänge 5 bis 13 an den Gymnasien und den Kooperativen Gesamtschulen der Region. Aurich: Ostfriesische Landschaft.
Diesen Beitrag zitieren als:
Frank, Marina, Rohloff, Tio & Peters, Jörg. 2024. Zur aktuellen Lage des Plattdeutschen in Ostfriesland: Ergebnisse eines Forschungsprojekts. In: Sprachspuren: Berichte aus dem Deutschen Sprachatlas 4(3). https://doi.org/10.57712/2024-03