In der Debatte um die Standardisierung des Niederdeutschen für die Vermittlung in der Schule (und in der Lehramtsausbildung an den Universitäten) wird weiterhin diskutiert, welche regionalspezifischen Ausprägungen einer Lehrvarietät zu etablieren sind (vgl. Arendt & Langhanke 2021). Neben der Standardisierungsdebatte ist außerdem relevant, wie im Unterricht Variation thematisiert und wie für dieses Thema sensibilisiert werden kann. Dabei können einerseits die Erfahrungen der Schüler*innen in den Unterricht eingebracht werden, andererseits sollte auch die überregionale Variation des Niederdeutschen berücksichtigt werden.
Als Reaktion auf die Verdrängung des Niederdeutschen aus dem kommunikativen Alltag wurden von den norddeutschen Bundesländern in den letzten Jahren sukzessive Strukturen aufgebaut, die einen Erhalt als regionales Kulturgut auch im 21. Jahrhundert ermöglichen sollen. Da der Erhalt solcher gefährdeten Sprachen, wie dem Niederdeutschen, maßgeblich von ihrer Weitergabe an die jüngere Sprechergeneration abhängt, stehen die Maßnahmen zur Förderung einer institutionellen Sprachvermittlung insbesondere im schulischen und universitären Sektor im Mittelpunkt. Bezüglich des Schul- und Universitätssektors ergeben sich in Hinblick auf die Vermittlung zwangsläufig die beiden folgenden Fragen (vgl. Bieberstedt 2021: 248): Welche Form des Niederdeutschen soll im schulischen oder universitären Kontext überhaupt vermittelt werden? Auf welche Weise sollte diese Lehrvarietät systematisiert und normiert werden?
Standardisierung des Niederdeutschen für den Schulunterricht
Das Niederdeutsche ist eine bedrohte Sprache, dessen Vitalität stark eingeschränkt ist (vgl. Buchmann 2021: 343), sodass seit längerer Zeit die Etablierung einer Standardvarietät diskutiert wird, die an Schulen und Universitäten unterrichtet werden soll. Das primäre Ziel der Standardisierung ist der Erhalt des Niederdeutschen als aktiv verwendete Sprache und soll der sich rasant auflösenden Sprechergemeinschaft entgegenwirken (vgl. Bieberstedt 2021: 250). Nach Ehlers (2021: 30–31) bieten sich drei Möglichkeiten für die Standardisierung des Niederdeutschen im Unterricht an:
- die Herausbildung einer Standardvarietät für den gesamten niederdeutschen Raum,
- die Aufwertung einer bereits existierenden regionalen Varietät des Niederdeutschen zur überregionalen Standardvarietät, die dann im gesamten niederdeutschen Raum einheitlich vermittelt würde,
- der Ausbau mehrerer großräumiger Standardvarietäten des Niederdeutschen, die in den entsprechenden Regionen im Unterricht vermittelt würden.
Der Vorteil der dritten Variante wäre, dass eine Minimierung der Sprachvariation, mit der jede Standardisierung automatisch einhergeht, weniger umfassend wäre. So wäre der strukturelle Abstand zwischen den vermittelten regionalniederdeutschen Standardvarietäten gegenüber den noch ungesteuert erworbenen lokalen Varietäten des Niederdeutschen weniger groß als bei einer einheitlichen Niederdeutschnorm. So bestände auch außerdem nicht die Gefahr, dass ein regionales Standardniederdeutsch von der Sprechergemeinschaft als unauthentisch eingeschätzt und deshalb nicht verbreitet würde. Durch die dritte Variante könnte also eine sprachliche Normierung gewährleistet werden, bei gleichzeitiger Sensibilisierung für regionalspezifische Variation (vgl. Ehlers 2021: 31). Für eine solche Standardisierungsform soll in diesem Beitrag eine Methode vorgestellt werden, die zeigt, wie die Sprachvermittlung an Schulen und Universitäten erfolgen könnte, das heißt, wie trotz sprachlicher Normierung des Niederdeutschen für Variation sensibilisiert werden könnte. Hierzu werden im Folgenden zunächst die bereits in das REDE SprachGIS integrierten Inhalte zum Niederdeutschen vorgestellt.
Niederdeutsch im REDE SprachGIS
Beim REDE SprachGIS (Sprachgeographisches Informationssystem, Schmidt et al. 2020) handelt es sich um ein webbasiertes, forschungszentriertes Infosystem für Materialien zu Varietäten des Deutschen. Im System können alle vorliegenden dialektologischen, soziolinguistischen und variationslinguistischen Datenbestände gebündelt und aufeinander bezogen und für systematische vergleichende Analysen für die Öffentlichkeit bereitgestellt werden (vgl. Ganswindt, Kehrein & Lameli 2015: 426). Einige Funktionen des REDE SprachGIS, die sich nicht nur für Forschungszwecke, sondern auch für die Vermittlung in Schule und Universität eignen, sind: Inhalte recherchieren und anzeigen, Sprachkarten ansehen und miteinander überblenden, Sprachaufnahmen anhören, Literaturangaben recherchieren, sprachliche Interpretamente, wie bspw. Dialekteinteilungen, miteinander vergleichen und raumbezogene Inhalte durch Suchoptionen filtern. Weiterhin können eigenständig Karten erstellt und Daten visualisiert werden und so verschiedene Datensätze miteinander vergleichbar gemacht werden. Die Karten können im System gespeichert und exportiert werden, bspw. für Publikationen. Das SprachGIS enthält verschiedene Datentypen, die mit Bezug auf das Niederdeutsche im Folgenden vorgestellt werden.
Sprachatlanten: Digitalisierte Sprachatlanten, die den niederdeutschen Sprachraum umfassen, sind neben dem „Sprachatlas des Deutschen Reichs“ von Georg Wenker (WA, 1888–1923) der „Plattdeutsche Wort-Atlas von Nordwestdeutschland“ von Wilhelm Peßler (PWA, 1928) und der „Atlas der Celler Mundart“ von Richard Mehlem (Cell. MA, 1967). Im neu integrierten „Sprechenden Norddeutschen Sprachatlas“ (SNOSA, Elmentaler 2023) werden Tonaufnahmen aus dem Projekt „Sprachvariation in Norddeutschland“ (SiN, 2008–2010) kartiert. Dabei handelt es sich allerdings nicht um niederdeutsche Aufnahmen, sondern um Aufnahmen im Regiolekt.
Tonaufnahmen: Das SprachGIS enthält mehrere Tonkorpora mit niederdeutschen Sprachaufnahmen. Hierzu zählen die Tonaufnahmen der (Neu-)Erhebung des Projekts „Regionalsprache.de“ (REDE, 2008–2012), des „Phonetisch-Phonologischen Atlas von Deutschland“ (PAD, 1960er–1970er), des „Niedersächsischen Dialektarchivs“ (NSD, 1950er–1960er) und des „Zwirner-Korpus“ (ZW, 1955–1970, nur Niedersachsen).
Literatur: Recherchemöglichkeiten zur Forschungsliteratur bietet die „Georeferenzierte Online-Bibliographie Areallinguistik“ (GOBA). Dabei handelt es sich um eine Onlinedatenbank zur regionalsprachlichen Forschungsliteratur mit fast 28.000 Titeln. Die meisten dieser Literaturangaben sind verschlagwortet und ca. 5.500 Titel sind mit dem Schlagwort „Niederdeutsch“ versehen.
Wenkerbögen: Bei Wenkerbögen handelt es sich um historische Dialektfragebögen vom Ende des 19. Jahrhunderts. Von über 57.000 Wenkerbögen befinden sich ca. 12.000 auf dem heutigen niederdeutschen Gebiet. Weitere Informationen zu den Wenkerbögen und zur Wenkerbogen-App finden sich in diesem Sprachspuren-Beitrag.
Anhand der vorgestellten Materialien wird deutlich, dass die Recherchemöglichkeiten des SprachGIS optimale Bedingungen bieten, um diese in der universitären (und schulischen) Niederdeutschvermittlung einzusetzen. Die Recherche nach stabilen und weniger stabilen Merkmalen des Niederdeutschen ist möglich, indem Sprachwandel in real time und apparent time untersucht werden kann. Nach Janle & Klausmann (2020) sind für die Vermittlung von regionalen Varianten die sog. „Sprechenden Sprachatlanten“ besonders geeignet. Ein sprechender Sprachatlas besteht i. d. R. aus zwei Ebenen: einer Karten- und einer Sprachaufnahmen-Ebene. Die Aufnahmen sind direkt anwählbar, sodass man sich passend zum Kartenbild einen Höreindruck verschaffen kann. Diese sind im SprachGIS teilweise schon angelegt, wie etwa im „Sprechenden NOSA“, oder können von Lehrkräften und/oder Lernenden selbst erstellt werden. In Bezug auf die Problematik der Standardisierung des Niederdeutschen kann das SprachGIS ebenfalls herangezogen werden: Wenn die Grundlage der Standardisierung nicht ein Lokaldialekt sein kann, sondern eine überregionale Variante, kann anhand der Materialien im SprachGIS empirisch geprüft werden, welche das ist und in welchen Gebieten sie gilt. Somit kann das SprachGIS bei der Recherche für den Unterricht sowie bei der Erstellung von Lehrmaterialien unterstützen.
Einheitsplural als Beispiel
Am Beispiel des niederdeutschen Einheitsplurals wollen wir zeigen, wie das SprachGIS genutzt werden kann. Der verbale Einheitsplural, d. h. nur eine Pluralform (wi/ji/se maken statt wir/sie machen, ihr macht), existiert in vielen kontinentalwestgermanischen Dialekten (vgl. de Vogelaer & Devos 2009). Es handelt sich beim Einheitsplural um eines der typisch niederdeutschen Merkmale. Im „Norddeutschen Sprachatlas“ (NOSA) zu den dialektalen Sprachlagen wird er als eine von insgesamt vier morphologischen Variablen behandelt (vgl. Elmentaler 2022). Der Einheitsplural gilt als Hauptkriterium für die Gliederung in West- und Ostniederdeutsch. Die Endung auf –(e)t (wi/ji/se mak(e)t) gilt im Westniederdeutschen, mit Ausnahme der niederdeutschen Dialekte in Ost- und Nordfriesland. Dort gilt, ebenso wie im Ostniederdeutschen, die Endung auf –en (wi/ji/se maken). Am Niederrhein wird der Plural nach mitteldeutschem Muster mit zwei Formen gebildet. Dabei sind die Grenzen nicht trennscharf, sondern weisen besonders in den Übergangsgebieten Variation auf. Teilweise zeigen sich auch Formen der hochdeutschen Variante. Vor allem in Mecklenburg ist auch schon früh die hochdeutsche Variante belegt. Die Grammatiken des 19. Jahrhunderts beschreiben diese Varianten, ebenso zeigen sich bei Wenker abweichende Belege der hochdeutschen Form. Ehlers (2018; 2021) weist für Rostock und Umgebung einen nahezu vollständigen Verlust des Einheitsplurals auf –en ggü. der hochdeutschen Variante nach. Im Westniederdeutschen erweist sich der Einheitsplural auf –t hingegen als stabiles Dialektmerkmal (vgl. Elmentaler 2022).
Das folgende Video verdeutlicht anhand des verbalen Einheitsplurals, wie man im SprachGIS eine sprechende Karte selbst erstellen kann. (Hinweis: Das Video enthält keinen Ton, bis auf die abgespielten Sprachaufnahmen.)
Wer jetzt Lust bekommen hat, Niederdeutsch mit dem REDE SprachGIS zu vermitteln, kann gerne am digitalen SprachGIS-Workshop im Oktober/November 2023 teilnehmen.
Literatur
Bieberstedt, Andreas (2021): Niederdeutsch als Lehrvarietät. Aspekte einer Normierung des Niederdeutschen für den Unterricht am Beispiel der Orthografie. In: Arendt, Birte / Robert Langhanke (Hrsg.): Niederdeutschdidaktik. Grundlagen und Perspektiven zwischen Varianz und Standardisierung. Berlin u. a.: Lang (Regionalsprache und regionale Kultur. Mecklenburg-Vorpommern im ostniederdeutschen Kontext. 4), 247–284.
Ehlers, Klaas-Hinrich (2018): Geschichte der mecklenburgischen Regionalsprache seit dem Zweiten Weltkrieg. Varietätenkontakt zwischen Alteingesessenen und immigrierten Vertriebenen. Teil 1: Sprachsystemgeschichte. Berlin [u. a.]: Lang (Regionalsprache und regionale Kultur. Mecklenburg-Vorpommern im ostniederdeutschen Kontext. 3).
Ehlers, Klaas-Hinrich (2021): Welches Niederdeutsch unterrichten? Ein kritischer Problemaufriss vor dem Hintergrund der jüngeren Entwicklung des Niederdeutschen in Mecklenburg-Vorpommern. In: Arendt, Birte / Robert Langhanke (Hrsg.): Niederdeutschdidaktik. Grundlagen und Perspektiven zwischen Varianz und Standardisierung. Berlin [u. a.]: Lang (Regionalsprache und regionale Kultur. Mecklenburg-Vorpommern im ostniederdeutschen Kontext. 4), 29–60.
Elmentaler, Michael (2022): Verbaler Einheitsplural. In: Elmentaler, Michael / Peter Rosenberg (Hrsg.): Norddeutscher Sprachatlas (NOSA). Bd. 2: Dialektale Sprachlagen. Hildesheim [u. a.]: Olms (Deutsche Dialektgeographie. 113.2), 405–416.
Elmentaler, Michael (Hrsg.) (2023): Sprechender Norddeutscher Sprachatlas (SNOSA), auf Grundlage des „Norddeutschen Sprachatlas (NOSA). Bd. 1: Regiolektale Sprachlagen“ von Michael Elmentaler und Peter Rosenberg. Herausgegeben von Michael Elmentaler unter Mitarbeit von Vivian Lucia Hansmann, Johanna Falkson sowie Martin Wolf (Erstellung der Tonproben) und Tuarik Buanzur (technische Bearbeitung). In REDE bearbeitet von Robert Engsterhold und Marina Frank. In: Schmidt, Jürgen Erich / Joachim Herrgen / Roland Kehrein / Alfred Lameli (Hrsg.): Regionalsprache.de (REDE). Marburg: Forschungszentrum Deutscher Sprachatlas.
Ganswindt, Brigitte / Roland Kehrein / Alfred Lameli (2015): Regionalsprache.de (REDE). In: Kehrein, Roland / Alfred Lameli / Stefan Rabanus (Hrsg.): Regionale Variation des Deutschen – Projekte und Perspektiven. Berlin / Boston: De Gruyter, 421–453.
Janle, Frank / Hubert Klausmann (2020): Dialekt und Standardsprache in der Deutschdidaktik. Eine Einführung. Tübingen: Narr.
Schmidt, Jürgen Erich / Joachim Herrgen / Roland Kehrein / Alfred Lameli (Hrsg.) (2020ff.): Regionalsprache.de (REDE). Forschungsplattform zu den modernen Regionalsprachen des Deutschen. Bearbeitet von Robert Engsterhold, Heiko Girnth, Simon Kasper, Juliane Limper, Georg Oberdorfer, Tillmann Pistor, Anna Wolańska. Unter Mitarbeit von Dennis Beitel, Milena Gropp, Maria Luisa Krapp, Vanessa Lang, Salome Lipfert, Jeffrey Pheiff, Bernd Vielsmeier. Studentische Hilfskräfte. Marburg: Forschungszentrum Deutscher Sprachatlas.
Vogelaer, Gunther de / Magda Devos (2009): „Einheitsplural“ in Low German and Dutch: a natural syncretism? In: Lenz, Alexandra N. / Charlotte Gooskens / Siemon Reker (Hrsg.): Low Saxon Dialects across Borders – Niedersächsische Dialekte über Grenzen hinweg. Stuttgart: Steiner (Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik. Beihefte. 138), 113–132.
Diesen Beitrag zitieren als:
Marina Frank & Vanessa Lang. 2023. Niederdeutsch vermitteln mit dem REDE SprachGIS. In: Sprachspuren: Berichte aus dem Deutschen Sprachatlas 3(8). https://doi.org/10.57712/2023-08