Was sind Hausnamen?
In vielen Regionen Deutschlands gibt es auf dem Dorf ganz besondere Namen: die Hausnamen (auch Dorfnamen oder Hofnamen genannt). Will man über einen Bekannten aus dem Dorf sprechen, so bezeichnet man ihn nicht mit dem Familiennamen (Müller, Wolf, Schultz), sondern mit dem sogenannten Hausnamen (Zellersch, Wisskebjes, Buchbennersch). So könnte jemand, der Heinrich Dörr heißt, im Dorf Verwältäsch Hein genannt werden. Man unterscheidet also, wie man heißt (Vorname), wie man sich nennt (Hausname) und wie man sich schreibt (Familienname). Kennt man den Hausnamen, weiß man zugleich, wo jemand wohnt und zu welcher Familie die Person gehört. Während die offiziellen Familiennamen im Personalausweis stehen, sind die Hausnamen inoffiziell und werden nur in der mündlichen Kommunikation in der Dorfgemeinschaft verwendet.
Wo kommen die Hausnamen her?
Viele Hausnamen sind sehr alt und können bis in das 16. Jahrhundert zurückverfolgt werden. Sie sind in der Regel aus den Namen der Erbauer oder Bewohner/innen des Hauses entstanden. Manche Hausnamen gehen auf Vornamen früherer Bewohner/innen zurück: Goitteus kommt von Gotthard, Kaspersch von Casper. Andere speisen sich aus Familiennamen: z.B. Deise (von: Adam Theiß), Liewersch (von: Adam Löber). Oft handelt es sich bei den Hausnamen auch um Berufsbezeichnungen: Buchbennersch (= ‘Buchbinder’), Zollbreiersch (= ‘Zollbereiter’). Auch der Standort des Hauses kann sich in den Namen widerspiegeln: Schloaglose (= ‘am Schlagbaum’), Gasse (= ‘in der Gasse’). Die Namen gehen in der Regel auf alle Bewohner/innen der Häuser über und werden über Generationen vererbt. Aus sozialhistorischer Perspektive wird deutlich, dass mit diesen Namen auf die Einheit von Haus und allen Bewohner/innen referiert wurde, also die vorindustriellen Sozialgemeinschaften, die alle verwandten und nicht verwandten Mitglieder eines Haushalts bzw. Hofes umfassten.
Wofür wurden die Hausnamen gebraucht?
Bei der Bezugnahme auf eine Person konnte in Dörfern mit den offiziellen Namen lange keine eindeutige Identifizierung (Monoreferenz) gewährleistet werden: Es gab einfach zu viele Johannesse, Annas, Elisabeths und Heinrichs. Auch die Familiennamen kamen in den Dörfern mehrfach vor. So konnte es vorkommen, dass zu einem gegebenen Zeitpunkt mehrere Personen in einem Dorf lebten, die die gleiche Kombination aus Vor- und Familiennamen trugen. Es wurden also andere Namen zur Identifizierung benötigt: Hausnamen! Mit ihnen wurde innerhalb eines Dorfes Monoreferenz hergestellt und zugleich konnte man die benannten Personen im komplexen Sozialsystem der Dorfgemeinschaft verorten.
Was macht die Hausnamen für die Sprachwissenschaft interessant?
Die Forschung zu Hausnamen lässt sich als Teilgebiet der Onomastik (Namenforschung) fassen. Erforscht wird sowohl deren Entstehung als auch die Frage, wie sich diese Namen grammatisch verhalten. Der Fokus liegt dabei häufig auf der Form, besonders dem Namenkörper: In Hausnamen können alte dialektale Formen, wie etwa Genitive, konserviert werden. In den mittelhessischen Hausnamen Beickersch (von Familienname Bäcker) und Rennerts (von Familienname Rinnert) kann man noch das Genitiv-s erkennen, das es im Dialekt heute nicht mehr gibt.
Nach Theresa Schweden kommt den Hausnamen auch eine besondere soziopragmatische Funktion zu, indem diese „Insider- oder Outsiderstatus“ innerhalb einer dörflichen Kommunikationsgemeinschaft markieren können (Schweden 2019: 134). Hausnamen gibt es nur für „alteingesessene“ Personen. Durch die Verwendung von Hausnamen weisen Sprecher/innen nicht nur die Referenzperson, sondern auch sich selbst und den Gesprächspartner als Mitglieder einer dörflichen „Ingroup“ aus. Alle Kommunikationspartner/innen müssen die familiale Struktur innerhalb des Dorfs kennen, damit die Referenz gelingt. In der Dorfgemeinschaft ist die Verwendung der Hausnamen also auch ein Zeichen dafür, dass man sich auskennt und dazugehört.
Warum erforschen wir die Hausnamen am Forschungszentrum Deutscher Sprachatlas?
In unserem Projekt beschäftigen wir uns mit der Dynamik des Hausnamen-Referenzsystems. Da sich die Rahmenbedingungen seit der Entstehung der Hausnamen stark verändert haben, werden die Hausnamen heute nicht mehr benötigt, um Monoreferenz herzustellen. Zur eindeutigen Identifizierung von Personen nutzen wir heutzutage die offiziellen Familiennamen.
Für die heutige Zeit ist daher immer wieder zu lesen, dass das System der Hausnamen seit Mitte des 20. Jahrhunderts abgebaut werde. Zurückgeführt wird dies vor allem auf den starken Wandel der Dörfer durch „Zuzug von Personen, die nicht der abgeschlossenen dörflichen Kommunikationsgemeinschaft angehören“ sowie den „damit verbundenen Dialektabbau“ (Schweden 2021: 123). Im Allgemeinen gelten Hausnamen als „Folklore“, die mit der Alltagspraxis in Dörfern gegenwärtig nichts (mehr) zu tun habe: In vielen Dörfern werden heute Schilder mit den alten Hausnamen an Häusern angebracht, um diese Namen nicht in Vergessenheit geraten zu lassen (für Beispiele aus unserem Untersuchungsort Großseelheim siehe Abb. 1 und 2).
Wie lebendig sind die Hausnamen in Großseelheim?
Um mehr über die heutige Bekanntheit und den Gebrauch der alten dörflichen Hausnamen herauszufinden, haben wir eine Fragebogenstudie im mittelhessischen Dorf Großseelheim durchgeführt, das in einem Übergangsgebiet zwischen dem zentral- und dem nordhessischen Dialektraum liegt. Neben der Frage, wie geläufig Hausnamen in Großseelheim noch sind, interessiert uns, durch welche sprachlichen und außersprachlichen Faktoren deren Abbau gesteuert wird. Die in unserer Umfrage präsentierten Hausnamen basieren auf einer Sammlung der Lokalhistoriker Heinrich Block, Hans-Georg Schröder und Dr. Herbert Schröder, in der die alten Hausnamen auf dem Stand des 18. Jahrhunderts dokumentiert sind. Wir bedanken uns an dieser Stelle sehr herzlich für die Bereitstellung! Auch die Beispiele in diesem Text stammen zum großen Teil aus der umfangreichen Sammlung, ebenso wie die oben abgebildete Katasterkarte von Großseelheim.
Wir haben uns in unserer Studie auf die Häuser beschränkt, die um 1755 den Dorfkern in Großseelheim bildeten. Für einige dieser Häuser gab es im Laufe der Zeit verschiedene Namen. Abgefragt wurden insgesamt 74 Hausnamen, wobei die Teilnehmer/innen angeben konnten, ob sie die entsprechenden Namen noch kennen und ob sie die Namen mit einer bestimmten Person verbinden. Neben soziodemographischen Daten wie dem Geburtsjahr und der sozialen Integration und Vernetzung im Dorf haben wir auch soziolinguistische Daten (die Einschätzung von Dialektkompetenz und Dialektgebrauch im Alltag) unserer Teilnehmer/innen abgefragt. Erhoben wurden diese Daten über eine Online-Umfrage (Bildschirmaufnahmen der Umfrage siehe Abb. 3).
Wer hat an der Umfrage teilgenommen?
Zum Zeitpunkt der Auswertung hatten 167 Personen den Fragebogen vollständig bearbeitet. Das entspricht rund 8% der Bewohner/innen Großseelheims. Bei einem Blick auf die Teilnehmer/innen wird deutlich, dass wir mit unserer Studie hauptsächlich ortsfeste und gut vernetzte Großseelheimer/innen erreicht haben:
Unsere Teilnehmer/innen sind durchschnittlich 49 Jahre alt, in Großseelheim aufgewachsen (77%), wohnen auch aktuell dort (82%) und haben im Schnitt 67% ihres Lebens im Dorf verbracht. Sie sprechen nach eigenen Angaben das alte Großseelheimer Platt (77%) und verwenden den Ortsdialekt regelmäßig im Alltag. Sie sind zudem sehr gut in die Dorfgemeinschaft integriert, was sich auch an der Zahl ihrer Bekanntschaften im Dorf zeigt: Sie schätzen, im Dorf mehr als 200 Personen zu kennen.
Großseelheimer Hausnamen stabiler als gedacht!
Die Ergebnisse der Studie sind erstaunlich: Unsere Teilnehmer/innen kannten durchschnittlich 65% der abgefragten Hausnamen und assoziierten im Schnitt 50% der abgefragten Namen mit einer bestimmten Person. Die Bekanntheit der Namen nimmt zwar über die Generationen ab (siehe Abb. 4: Bekanntheit der Hausnamen und zugehöriger Referenzpersonen), allerdings können die Hausnamen in Großseelheim insgesamt als gut bekannt und aktiv im Gebrauch bewertet werden.
Abb. 4: Bekanntheit der Hausnamen und zugehöriger Referenzpersonen nach Geburtsjahr, n=165
Im Schnitt gaben 83% unserer Teilnehmer/innen an, selbst noch Hausnamen zu verwenden. Setzt man dies mit der subjektiven Dialektkompetenz (Abfragekontext: Sprechen Sie das alte Großseelheimer Platt, das sich deutlich von Ihrem Hochdeutsch unterscheidet?) in Verbindung, wird deutlich, dass die ursprünglich dialektalen Namen auch unter den Großseelheimer/innen Verwendung finden, die nach eigenen Angaben keinen Dialekt sprechen (siehe Abb. 5: Verwendung von Hausnamen) .
Abb. 5: Verwendung von Hausnamen nach Dialektkompetenz (Selbsteinschätzung), n=163
Unser vielleicht überraschendstes Ergebnis besteht darin, dass 107 unserer 167 Teilnehmer/innen angaben, dass sie selbst noch einen Hausnamen tragen. Dabei handelte es sich um insgesamt 60 unterschiedliche Namen, von denen 27 auch in unserem Fragebogen enthalten waren. Erstaunlich war vor allem, dass über alle Generationen hinweg mehr Teilnehmer/innen angaben, einen Hausnamen zu tragen, als keinen Hausnamen zu tragen.
Stabile Ortsgemeinschaften schützen die Hausnamen vor Abbau
Nach Lesley Milroy lässt sich durch Netzwerkanalysen erklären, warum sich in bestimmten sozialen Gruppen und Kommunikationsgemeinschaften linguistische Systeme erhalten, die in Opposition zu einer etablierten, anerkannten Norm stehen (vgl. Milroy/Gordon 2003: 118). In unserem Fall sind dies die Systeme der inoffiziellen Hausnamen gegenüber den offiziellen Familiennamen. Nach Milroy wird Sprachwandel gehemmt in Gemeinschaften, die sich durch engmaschige und sich überschneidende Netzwerke auszeichnen (vgl. Milroy/Gordon 2003: 129). Eben das scheint sich anhand unserer Daten zu Großseelheim zu zeigen: Einem Dorf, das sich zwar durch Zuzug verändert, in dem es aber noch immer eine eng vernetzte dörfliche Gemeinschaft gibt, in der die Hausnamen weiterhin gebräuchlich sind.
Hausnamen in Großseelheim keine Folklore
Im Rahmen unserer apparent-time-Studie in Großseelheim zeichnet sich ein Abbau der alten Hausnamen von Generation zu Generation ab. Dabei scheint der Dialektabbau dem Abbau des Hausnamen-Referenzsystems vorauszugehen. Allerdings zeigt sich auch, dass Bekanntheit und Gebrauch von Hausnamen – zumindest bei der hier erhobenen dörflichen „Ingroup“ – noch immer erstaunlich lebendig sind. Es scheint sich hierbei in Großseelheim keineswegs um Folkore zu handeln: Die Hausnamen gehören zum kommunikativen Alltag der alteingesessenen Dorfbewohner/innen.
Mitmachen
Sie wohnen in Großseelheim oder kennen Personen aus Großseelheim? Gerade haben wir unsere zweite Umfrage zu den Hausnamen in Großseelheim gestartet. Machen Sie gerne mit oder senden Sie den Link zur Umfrage an Ihre Bekannten:
Zur aktuellen Umfrage: uni-marburg.de/WhbH9
Zur ersten Umfrage: uni-marburg.de/kThra
Weitere Informationen finden Sie auf unserer Projekthomepage:
Literatur
Block, Heinrich / Schröder, Hans-Georg / Schröder, Herbert (2016): Alte Hausnummern mit Familien in Großen Seelheim ab dem Jahre 1650. Band 1. Die Hausnummern von 1–72. Bis Okt. 1777.
Debus, Friedhelm (2013): Hausnamen. In: Beiträge zur Namenforschung 48, S. 139–163.
Milroy, Lesley / Gordon, Matthew (2003): Sociolinguistics. Method and interpretation. Malden: Blackwell. DOI: https://doi.org/10.1002/9780470758359
Milroy, James / Milroy, Lesley (1985): Linguistic change, social network and speaker innovation. In: Journal of linguistics 21, S. 339–384. DOI: https://doi.org/10.1017/S0022226700010306
Milroy, Lesley / Milroy, James (1992): Social network and social class: Toward an integrated sociolinguistic model. In: Language in Society 21(1), S. 1–26. DOI: https://doi.org/10.1017/S0047404500015013
Nübling, Damaris / Fahlbusch, Fabian / Heuser, Rita (2015): Namen. Eine Einführung in die Onomastik. 2., überarbeitete und erweiterte Auflage. Tübingen: Narr.
Schweden, Theresa (2019): Möllers Karl, Schulten Mama und Schmidtenbuur: Soziopragmatik der Personenreferenz im Niederdeutschen synchron und diachron. In: Namenkundliche Beiträge zum Niederdeutschen (ZDL 86/2), S. 134–154. DOI: https://doi.org/10.25162/zdl-2019-0004
Schweden, Theresa (2021): Zwischen Toponym und Anthroponym. Ein toponomastischer Ansatz zur Analyse dörflicher Hausnamen als geographisches Referenzsystem. In: Dräger, Kathrin / Heuser, Rita / Prinz, Michael (Hg.): Toponyme. Berlin/Boston: De Gruyter, S. 109–127. DOI: https://doi.org/10.1515/9783110721140-006
Diesen Beitrag zitieren als:
Fischer, Hanna; Krapp, Maria Luisa und Zonker, Nikolas. 2021. „Wie heißt du und wie nennst du dich?“ – Hausnamen in Mittelhessen. Sprachspuren: Berichte aus dem Deutschen Sprachatlas 1(12). https://doi.org/10.57712/2021-12.