„Man kann nur einen Fehler machen und der ist, Dialekt nicht zu sprechen“. Das ist das Motto Götz Konrads, Bürgermeister der Gemeinde Eschenburg sowie Initiator des MundART-Festivals, das am 11. Mai 2024 in Wissenbach, einem idyllisch gelegenen Ortsteil der Gemeinde im mittelhessischen Lahn-Dill-Kreis, stattgefunden hat.
Die Veranstaltung des 2018 gegründeten Dialekt-Dachverbands „MundART“ stand ganz im Zeichen hessischer Dialektvielfalt und betont den Dialog mit der Landesregierung, die die Mundarten erhalten und gestalten möchte. Der Gedanke der sprachkulturellen Vielfalt konnte von Heimatminister Ingmar Jung, selbst sprachlich im Rheingauischen zu Hause, nur unterstrichen werden. Nicht zuletzt haben sich zahlreiche Akteurinnen und Akteure aus Hessens Regionen, vom Hinterland bis zur Rhön, aus Oberhessen, der Wetterau und natürlich dem Lahn-Dill-Kreis selbst, in Eschenburg zusammengefunden und ein buntes Programm auf die Bühne gestellt.
Abb. 1: MundART-Festival
Wichtige Beiträge und Impulse kamen selbstverständlich auch aus der Wissenschaft und in Fachgesprächen, ob vertreten durch Prof. Hanna Fischer am Runden Tisch im Austausch mit Heimatminister Ingmar Jung, Regierungspräsident Dr. Christoph Ullrich und Landrat Wolfgang Schuster oder an den Infoständen der regionalen Kulturvereine, des Forschungszentrums Deutscher Sprachatlas, des Projektes Sprachvariation@Schule und dem Hessen-Nassauischen Wörterbuch. Insbesondere Letzteres wurde von Konrad anlässlich des MundART-Festivals als Leuchtturm-Projekt besonders hervorgehoben. Und tatsächlich besitzt das Wörterbuchprojekt Signalwirkung für viele mögliche Forschungsfragen und Forschungsvorhaben. Doch auch diese stützen sich idealerweise auf ein vollständiges Werk. Ebenso wie jede Beschäftigung mit der hessischen Dialektvielfalt auf ein Grundlagenwerk verweisen müsste. Womit gleichwohl auf die Dringlichkeit verwiesen wurde, das Wörterbuch auch wirklich zu einem Abschluss zu bringen. Warum es so zentral ist, ein Augenmerk auf das Hessen-Nassauische Wörterbuch zu richten, konnte in Gesprächen mit den Festivalbesuchern, von denen sich einige selbst als kundige Wörterbuchmacher erwiesen, an charakteristischen Grundzügen dieser einzigartigen Sammlung demonstriert werden.
Dialektvielfalt im Fokus der Lexikographie – das Hessen-Nassauische Wörterbuch
Das Hessen-Nassauische Wörterbuch (im Folgenden HNWb) ist ein Grundlagenwerk, das im Zuge der um die Wende zum 20. Jahrhundert geführten Diskussion entstanden ist, wie man die Mundarten der einzelnen deutschen Regionen am besten wissenschaftlich dokumentieren sollte. Da die großlandschaftlichen Mundartwörterbücher des Deutschen als Hauptquelle der dialektalen Semantik angesehen werden, gehört die Sammlung und Deutung mundartlicher Wortschätze zu den wichtigsten Aufgaben der Dialektologie. Gegründet 1911 durch die Preußische Akademie der Wissenschaften unter Leitung von Ferdinand Wrede, ist die Finanzierung des Hessen-Nassauischen Wörterbuchunternehmens in den vergangenen Jahren ins Stocken geraten und kann aktuell nur (durch eine Querfinanzierung aus dem REDE-Projekt) auf sehr einfachem Niveau sichergestellt werden. Dies bedeutet auch, dass die wissenschaftliche Auswertung tausender Belegzettel, die den mundartlichen Wortschatz der Gebiete der ehemaligen preußischen Provinz Hessen-Nassau zwischen 1912 bis 1934 dokumentieren, brachliegt. Sprachgeographisch zentral gelegen, behandelt das Wörterbuch die Dialektlandschaften des Nieder‑, Mittel- und Osthessischen sowie Randbereiche des Westfälischen, des Ostfälischen, des Thüringischen, Ostfränkischen, Rheinfränkischen und Moselfränkischen. Das Hessen-Nassauische Wörterbuch hat damit nicht nur Anteil an den drei großen deutschen Sprachlandschaften, sondern umschreibt genau das Sprachgebiet, dessen Dialektforschungsstruktur laut Koalitionsvertrag nachhaltig gestärkt werden soll.
Grundzüge eines Wörterbuchtorsos
Das Wörterbuch ist, wie die meisten Mundartwörterbücher, semasiologisch ausgerichtet, wobei der Wortschatz in den bisher gedruckten Wörterbuchteilen traditionell alphabetisch geordnet ist. Der Stichwortansatz erscheint – und dies sorgte bei vielen Dialektsprechern auf dem Festival zunächst einmal für Befremden – in neuhochdeutscher Form. Hier wird allerdings der Tatsache Rechnung geschuldet, dass bei Wörterbüchern im mitteldeutschen Raum traditionell der Schriftsprache der Vorzug gegeben worden ist, es sich mit den Anteilen an den großen Sprachlandschaften um ein durchaus heterogenes Wörterbuchgebiet handelt sowie Benutzerinteressen berücksichtigt werden sollten (z. B. Hertel 1895, VI). Angesetzt wird daher die hochdeutsche Wortform oder eine dem Hochdeutschen angenäherte Form. So wäre etwa der an das mittelhochdeutsche Huoninklin ‚kleines Hühnchen‘ angelehnte Stichwortansatz Hünkel etymologisch genauer als das im Duden angesetzte Hinkel (s. a. Werth/Vielsmeier/Aumann 2021, 208 und Vielsmeier 2022). Wie ein großer Teil anderer dialektlexikographisch interessanter Phänomene auch, befindet sich das Stichwort Hünkel allerdings in einem unbearbeiteten Teil des Wörterbuchs.
Wortgeographie als besonderes Merkmal
Ein merkliches Echo hat das von Luise Berthold angeregte „wortgeographische Prinzip“ erzeugt, wonach die geographische Verteilung der beschriebenen Stichwörter mit Hilfe von Karten veranschaulicht wird (Berthold 1938). Indem das HNWb als erstes Wörterbuchunternehmen dieser Art von Anfang an versuchte, dieses Prinzip konsequent zu berücksichtigen (einem Beispiel übrigens, dem viele Parallelunternehmen gefolgt sind), liefern seine Wortartikel und ‑karten für die geographisch-vergleichende Analyse eine Fülle von Anregungen und Ergebnissen für weiterführende Untersuchungen; etwa wortgeographisch verursachte Bedeutungsdifferenzierungen wie bei pfetzen und kneipen (vgl. Art. pfetzen in: HNWb 2, 601–602; sowie Berthold 1938, 106 f.). So gibt es einen nördlichen Bereich, in dem kneipen für ‚kneifen‘ vorkommt und einen südlichen Bereich, in dem für dieselbe Bedeutung pfetzen verwendet wird (s. Abb. 3). Dazwischen existiert in Nordhessen ein breiteres Mischgebiet, in dem an bestimmten Orten pfetzen und kneipen undifferenziert nebeneinander, bisweilen sogar konkurrierend verwendet werden. Gezeigt werden kann dies an der Bedeutungsverengung im einzelörtlichen Nebeneinander: pfetzen wird ortsgebunden als ‚schmerzhaftes Kneifen mit den Fingernägeln‘ verwendet, kneipen als ‚weniger schmerzhaftes Kneifen mit der vollen Hand‘, wobei die Lesarten sich auch austauschbar zeigen. Während der Wörterbuchartikel zu pfetzen und die dazugehörige Wortkarte nachvollziehbar die wortgeographischen Verschiebungen und Differenzierungen veranschaulicht, kann ein Artikel zu kneipen diese Ausführungen nicht ergänzen, da er in die unbearbeitete Alphabetstrecke des Wörterbuchs fällt.
Ähnlich verhält es sich mit strählen in der Verwendung ‚kämmen‘, das im Marburger Raum neben kämmen steht. Im Wörterbuchartikel wird ausgeführt, wie dieses Nebeneinander von Synonymen durchaus zur semantischen Differenzierung beigetragen hat, wobei kämmen in der Bedeutung ‚das Haar mit einem Kamm glätten, ordnen‘ und strählen eher in der Bedeutung ‚striegeln‘ verwendet wird (s. Art. strählen in HNWb 3, 820–821). Wie es sich aber genau mit der Bedeutungsdifferenzierung zu kämmen verhält, muss das Wörterbuch wiederum als Antwort schuldig bleiben. Denn ebenso wie für den Artikel kneipen fehlen für die Bearbeitung des Materials für kämmen die finanziellen Mittel.
40% des Alphabets
Insgesamt betrachtet umfassen die unbearbeiteten Teile des Stichwortbestands für das Hessen-Nassauische Wörterbuch die Buchstabenstrecken Ac‑K. Das sind knapp 40% des Alphabets. Wie gezeigt, fehlen sowohl etymologisch interessante Stichwortansätze, zu denen schon einiges an Vorarbeit geleistet worden ist, z. B. Hünkel, als auch solche wie kämmen oder kneipen, die bereits das vorbereitete Bild wortgeographischer Bedeutungsdifferenzierungen sinnvoll vervollständigen könnten. Schuldig bleiben muss das Wörterbuch dem Benutzer damit auch wichtige Verweise für die bedeutungsmäßige Erkenntnis des landschaftlichen Wortschatzes. So sind etwa Synonymieverweise in der sprachgeographischen Wörterbucharbeit wichtig, da sie einen Vergleich unterschiedlicher Wortformen, die dieselbe Bedeutung tragen, erlauben. Diese sind teilweise, wie etwa der Artikel Schwiegersohn zeigt, bereits explizit angelegt (vgl. Art. Schwiegersohn in HNWb 3, 535). Verwiesen wird dort auf die ältere, im Mitteldeutschen aber noch lange geläufige Entsprechung Eidam. Die Zusammenschau beider Artikel könnte weitergehend Hinweise darauf geben, inwiefern hier Wortgrenzen an Stadtgrenzen gebunden sind. Vermutet wird schon seit längerem eine Neigung der städtischen Bevölkerung „Wurzelwörter durch Komposita oder Ableitungen zu ersetzen“ (Debus 1958, 36). Gerade in Anbetracht laufender Digitalisierungsstrategien für die bereits vorhandenen Wörterbuchteile wäre eine Verweisstruktur ein technisch leicht umsetzbares Vorhaben und würde dem potenziellen Nutzer über das Alphabet hinaus zudem interessante Zugriffsmöglichkeiten auf den erfassten Wortbestand bieten. Zum gegebenen Zeitpunkt würde eine solche Struktur für einen großen Teil des Wörterbuchs jedoch buchstäblich ins Leere laufen.
Dass die wissenschaftliche Auswertung des gesammelten Sprachmaterials für einen so großen Buchstabenabschnitt fehlt, kann man nur als eklatante Lücke bezeichnen. Nicht nur sind Ausführungen über arealbildende lexikalische Phänomene zu einer Zeit, in der der regionale Wortschatz in all seiner dialektalen Lebendigkeit noch vorhanden gewesen ist, nur äußerst begrenzt möglich, auch die Aussagekraft der aufwendig erstellten Karten (die ja wiederum einen eigenen wissenschaftlichen Meilenstein darstellen) ist eingeschränkt, weil viele Artikel zu den dargestellten Wörtern nicht abschließend bearbeitet werden konnten. Zudem fehlt damit die Datengrundlage, um beispielsweise Entwicklungen in der hessischen Sprachvielfalt durch zeitlich andauernde hochsprachliche Einflüsse beschreiben zu können. Hier könnten sich z. B. Fragen anschließen, inwieweit Veränderungen im alltäglichen Leben zu Bedeutungsverschiebungen beigetragen haben. Diese könnten lexemgeleitet, die individuelle und gesellschaftliche innere Mehrsprachigkeit sowie Sprachbewegungsmuster in den Fokus nehmen, wozu ferner gehören würde, die Ergebnisse historischer Wortforschung für Kulturtransferprozesse nutzbar zu machen. In anderen linguistischen Teildisziplinen, etwa dem 2019 abgeschlossenen DFG-Projekt zur hessischen Dialektsyntax zeigte sich das HNWb bereits als wertvolle Datenquelle und ist nur einer von vielen Beweisen, dass ein Wörterbuch zum Sprachstand einer historischen Provinz für die Probleme neuerer Sprachwissenschaft sowohl nutzbar als auch unverzichtbar ist. Nach wie vor ist das Hessen-Nassauische Wörterbuch aber wesentlicher Bestandteil der Mundart- sowie der Heimatpflege und der landesbezogenen Forschung. Als Zeugnis eines immateriellen Kulturguts kann die Dokumentation für die Nachwelt und Aufbereitung für die Forschung von heute und morgen eigentlich nur als Pflicht betrachtet werden.
Beitragen und Mitwirken
Die aktuellen Arbeiten an dem Wörterbuch haben neben der Fortführung des Projektes im Allgemeinen u.a. die Sicherung und Auslotung der Auswertungsmöglichkeiten des Datenbestandes im Fokus. An der Nutzbarmachung des Wörterbuchmaterials können sich Interessierte hier seit kurzem ganz praktisch selbst beteiligen. Möglich ist dies über die anlässlich des Festivals entworfene App zu den Fragebögen des HNWb (Abb. 4). Mittels Transliteration wird damit ein wichtiger Baustein eines umfassenden digitalen Sprachdenkmals erfasst, wobei gleichzeitig eine aktive Auseinandersetzung mit der dialektalen Vielfalt mit der eigenen Region stattfinden kann. Die Fragebogen-Anwendung ist Teil laufender Arbeit an den Datenbeständen, zu denen unter anderem die Retrokonversion des umfangreichen Zettelarchivs in Zusammenarbeit mit dem Landesgeschichtlichen Informationssystem Hessen (s. a. Vielsmeier 2022) sowie die Digitalisierung der gedruckten Wörterbuchteile durch das Trier Center for Digital Humanities gehört (s. a. Klee 2024, 114 f.).
Darüber hinaus ist die Suche nach einer finanziellen Kontinuität für das HNWb nach wie vor von grundlegender Bedeutung. Denn mit der derzeitigen personellen wie finanziellen Ausstattung des Wörterbuchprojektes kann das umfangreich erhobene Material nicht vollständig bearbeitet werden. Das MundART-Festival, welches kürzlich in Eschenburg stattgefunden hat, wurde deshalb auch zur Benefizveranstaltung für das HNWb auserkoren. Die eingegangenen Spenden, die sich selbstverständlich in einem kleineren finanziellen Rahmen bewegen, werden für alles, was an Arbeiten für dieses Wörterbuch ansteht, in jedem Fall gute Verwendung finden. Selbstverständlich sind weiterhin Zuwendungen möglich; für das Vorankommen des Wörterbuchprojektes werden diese auch in Zukunft eine wichtige Rolle spielen.
Ausblick
Es war einmal der Wunsch in der Dialektologie, die wichtigsten Landschaften von A bis Z aufzuarbeiten, sodass sich weiträumige Strukturen darstellen lassen, die, wenn auch vom Material her uneinheitlich, aber von der möglichen Thematik her, weit über die 200 zufälligen Wörter des ebenfalls in Marburg angesiedelten Deutschen Wortatlasses hinausgehen könnten (vgl. Löffler 1974, 120f.). Heute ist im geographischen Zentrum der deutschen Dialektlexikographie nach wie vor ein weißer Fleck auf der Landkarte zu sehen (s. Abb. 5), eingerahmt von den abgeschlossenen oder sich in Abschluss befindenden Wörterbuchprojekten Westfälisches Wörterbuch, Niedersächsisches Wörterbuch, Thüringisches Wörterbuch, (digitales) Fränkisches Wörterbuch, Südhessisches Wörterbuch und Rheinisches Wörterbuch. Der Ausgestaltung dieses weißen Flecks widmen wir uns sehr zuversichtlich, denn das Interesse an Hessens vielfältiger Dialektlandschaft besteht, das zeigte nicht zuletzt das MundART-Festival. Es eröffnete Gesprächsräume, wie zukünftige Dialektförderstrukturen im Sinne des Koalitionsvertrages aussehen können. Gleichzeitig war der Tag des Festivals Startschuss für den durch das Hessische Ministerium für Landwirtschaft, Umwelt, Weinbau, Forsten, Jagd und Heimat ausgelobten und mit 8.000 € dotierten Mundartpreises. Dies alles ist Zeugnis für die Wichtigkeit, die die Hessische Landesregierung diesem neuen Themenschwerpunkt beimisst und wird zur Sichtbarkeit der Dialekte und zum Gewinn des öffentlichen Interesses beitragen.
Abb. 5: An das HNWb angrenzende großlandschaftliche Mundartwörterbücher des Deutschen (D. Beitel)
Literatur
Berthold, Luise (1938). Die Wortkarte im Dienste der Bedeutungslehre. In: Zeitschrift für. Mundartforschung 14, 101–106.
Debus, Friedhelm (1958). Die deutschen Bezeichnungen für die Heiratsverwandtschaft. Gießen 1958.
Hertel, Ludwig (1895). Thüringer Sprachschatz. Weimar 1895.
Hessen-Nassauisches Volkswörterbuch. Marburg 1943–2015.
Klee, Anne (2024). Vernetzungsstrategien zwischen Dialektwörterbüchern. In: Großlandschaftliche Dialektwörterbücher zwischen Linguistik und Landeskunde. Hrsg. von Antje Dammel und Markus Denkler. Köln, 113–131.
Löffler, Heinrich (1974). Probleme der Dialektologie: Eine Einführung. Darmstadt.
Vielsmeier, Bernd (2022). Das Hessen-Nassauische Wörterbuch. Sprachspuren: Berichte aus dem Deutschen Sprachatlas 2(1). https://doi.org/10.57712/2022-01.
Werth, Alexander, Bernd Vielsmeier, Stefan Aumann (2021). Hessen-Nassauisches Wörterbuch (HNWb). In: Germanistische Dialektlexikografie zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Hrsg. von Alexandra N. Lenz und Philipp Stöckle. Stuttgart 2021, 201–221.
Diesen Beitrag zitieren als:
Mederake, Nathalie. 2024. MundART-Festival: Ein Wörterbuch zu Gast in Eschenburg. In: Sprachspuren: Berichte aus dem Deutschen Sprachatlas 4(7). https://doi.org/10.57712/2024-07