Eine der wichtigsten Lautentwicklungen in der Sprachgeschichte des Deutschen ist der Zusammenfall der Altdiphthonge mhd. ei-öu-ou mit denen aus î‑iu‑û neu entstandenen Diphthongen ai-oi-au (= frühneuhochdeutsche Diphthongierung). Nach bisheriger Auffassung erfolgte dieser Zusammenfall jedoch nur in der Schrift, der Standardsprache und den meisten Regiolekten – in älteren Sprachstufen und fast allen Dialekten werden die „alten“ und „neuen“ Diphthonge bis heute unterschieden. Wie es in der neuhochdeutschen Schriftsprache und der Standardsprache zum Zusammenfall gekommen sein soll, ist gewissermaßen ein Rätsel. Das soll an zwei entgegengesetzten Meinungen zu den Ursprüngen des frühneuhochdeutschen Phonemzusammenfalls verdeutlicht werden.
In der gängigen mittelhochdeutschen Grammatik von Paul (2007) wird angenommen, dass die in der frühneuhochdeutschen Diphthongierung entstandenen Laute im Bairischen und Schwäbischen zunächst als ei-öu-ou, also mit geschlossener ersten Diphthongkomponente, ausgesprochen wurden. Das habe bei den Altdiphthongen seit dem 13. Jahrhundert zu einer Senkung (der Vorderzunge) und einer Öffnung (des Kiefers) geführt, sodass die neuen Diphthonge dann als ai-oi-au ausgesprochen worden seien. Die Senkung bzw. Öffnung wird als phonologischer Schub bezeichnet, der beide Diphthongreihen auseinanderhalten soll (vgl. Paul 2007: 80). Der Zusammenfall beider Reihen wird auf den Schreibgebrauch der kursächsischen Kanzlei zurückgeführt. Zur Schreibung des ersten Reihenglieds heißt es:
„Die Schreibung <ai> verbreitet sich im Bair., wo sie nach dem 16. Jh. der <ei> Schreibung weicht.“
Paul 2007: 80
In der weit verbreiteten Einführung in die Sprachgeschichte von Wilhelm Schmidt (2020) wurden Ursache und Wirkung genau anders herum gesehen:
„Mhd. /ei/ und /ou/ sind seit dem 11. und 12. Jahrhundert teilweise im Oberdeutschen zu /ae/ und /ao/ gesenkt worden, also schon vor […] der fnhd. Diphthongierung […]. Deshalb werden meist die alten […] und die neuen Diphthonge […] in der Schreibung in bairischen und schwäbischen Texten bis ins 18. Jahrhundert unterschieden: ai, ay steht für mhd. ei, ei für mhd. î: zeit, aber brait. Bei Luther sind dann beide Laute in der Schrift zusammengefallen, wenn auch nicht ganz konsequent.“
Schmidt, W. 2020: 409
Rätselhaft bzw. unbefriedigend an den beiden Erklärungen bleibt, dass das phonologische Ergebnis, also der Zusammenfall, mit phonologischen Prozessen erklärt wird, die das genaue Gegenteil als Kern hatten, nämlich den Distinktionserhalt, und dass als Erklärung eine Schriftentwicklung genutzt wird, die sich gegenläufig zur Phonologie entwickelt haben soll. Um dieses sprachhistorische Rätsel zu lösen und in Bezug auf den frühneuhochdeutschen Phonemzusammenfall zu einem befriedigenderen Ergebnis zu gelangen, habe ich in meiner Masterarbeit diese phonologischen Prozesse im mitteldeutschen Raum an den hierfür besonders geeigneten hessischen Dialekten untersucht. Diese eignen sich durch ihre Teilung besonders gut für eine Untersuchung. Während das östliche Nordhessen und Osthessen vordeutsche Formen bewahrt haben, also entweder alte Monophthonge (z.B. mhd. /î/) oder alte Diphthonge (z.B. mhd. /ei/) und sich durch ihre Archaik auszeichnen,1Warum bei den alt erhaltenen Formen von vordeutschen Formen für den hessischen Sprachraum ausgegangen werden kann, ist detailliert im Sprachspurenbeitrag „‘he’ statt ‘er’: Nordseegermanisches im hessischen Sprachmuseum“ von Jürgen Erich Schmidt nachzulesen. haben das Zentralhessische und das Rheinfränkische einen progressiven Charakter in Bezug auf sprachdynamische Prozesse – hier wurden die frühneuhochdeutsche Diphthongierung für mhd. /î‑û/ und eine Monophthongierung, die sogenannte Dialektmonophthongierung, für mhd. /ei-ou/ vollzogen. So kann genau an den Grenzen, an denen die archaischen Dialekte und die neuen Lautstände der progressiveren Dialekte des Hessischen aufeinandertreffen, untersucht werden, wie der frühneuhochdeutsche Phonemzusammenfall in der Mündlichkeit verlaufen sein dürfte.
Für die Analyse zum frühneuhochdeutschen Phonemzusammenfall in den hessischen Dialekten wurden zunächst nur die ersten beiden (palatalen) Reihenglieder beider Lautreihen betrachtet, also [ɛ͡ɪ] und [a͡ɪ]. Zuerst wird der Prozess der frühneuhochdeutschen Diphthongierung (mhd. /î/) für die Lautbedingung /vor Konsonant/ anhand der Karte „Eis“ in den Blick genommen:
Hier ist die Diphthongierung (im pinken Gebiet) bis in die westlichen Teile des Nord- und Osthessischen vorgedrungen, im östlichen Nord- und Osthessen ist die vordeutsche Form „is“ bewahrt. Der neu vorgedrungene Diphthong lautet praktisch überall [a͡ɪ].
Für die Lautbedingung /Hiatus/ und /Auslaut/ hat sich die frühneuhochdeutsche Diphthongierung, wie auch in anderen Randgebieten der frühneuhochdeutschen Diphthongierung, weiter nach Norden erstreckt, wie hier an der Karte „bei“ zu erkennen ist:
Hier hat lediglich das Nordhessische die vordeutsche Form „bi“ bewahrt, der Rest der Karte hat den neuen Diphthong mit [ba͡ɪ] als Leitform.
Für die zweite Lautreihe, also mhd. /ei/, die an dem rätselhaften Phonemzusammenfall beteiligt ist, wird die Karte „heiß“ betrachtet:
Hier zeigen sich zwei Varianten, nämlich eine dominierende Form (hellgrün) mit einer [a͡ɪ]-Realisierung, die auf das Alt- und Mittelhochdeutsche zurückgeführt werden kann sowie eine indominante Variante mit dunkelgrünen abweichenden Belegen, die mit geschlossenerer ersten Diphthongkomponente, also [hɛ͡ɪs] realisiert wird und auf das Westgermanische zurückzuführen ist. Bei diesem variierenden Lautwert von [ɛ͡ɪ‑a͡ɪ] wird in diesem Beitrag von einer alten Variation ausgegangen. Für eine detaillierte Begründung zur alten Variation des Altdiphthongs: vgl. Schmidt et al. (angenommen). Die zentralhessischen und rheinfränkischen Dialekte haben eine Monophthongierung, also die Dialektmonophthongierung vollzogen. Die Karte „heiß“ weist relativ kleinräumig gestaffelte Monophthonge von [haːs] über [hɛːs] zu [heːs] auf.
Die Karte „zwei“ zeigt ebenfalls dialektmonophthongierte Staffelungen des Altdiphthongs, allerdings aufgrund der Lautbedingung /Hiatus/ und /Auslaut/ im Raum weiter ausgedehnt als zuvor bei der Karte „heiß“:
Aus den eben besprochenen Sprachkarten ist nun deutlich geworden, dass beide Sprachwandelprozesse, also sowohl die Diphthongierung für mhd. /î/ als auch die Dialektmonophthongierung für mhd. /ei/, in Hessen steckengeblieben sind und einen Teil der hessischen Dialekte nie erreicht haben. Die Frage, die sich an dieser Stelle gestellt werden musste, lautet: Was ist passiert als die frühneuhochdeutsche Diphthongierung einen Raum erreichte, in dem im Süden und im Westen die Dialektmonophthongierung im Gange war, im Norden und Osten seit vordeutscher Zeit aber Altdiphthonge realisiert wurden? Nach der Analyse der Sprachkarten ließen sich verschiedene Prozesse, die sich in Bezug auf den frühneuhochdeutschen Phonemzusammenfall vollziehen, beobachten. In diesem Beitrag sollen die zwei wichtigsten Prozesse anhand von Synthesekarten veranschaulicht werden, nämlich der Zusammmenfall von Alt- und Neudiphthong und die Distinktionsstabilisierung durch Ausweichformen des Altdiphthongs.
Die erste Synthesekarte zeigt das Analyseresultat zum Phonemzusammenfall von Alt- und Neudiphthongen, die aus den Überblendungen der Karten „Eis“ und „heiß“ für die Lautbedingung /vor Konsonant/ sowie aus der Überblendung der Karten „bei“ und „zwei“ für die Lautbedingung /Hiatus/ und /Auslaut/ resultiert:
Es ergeben sich für „heiß“ (hellgrün) und „zwei“ (dunkelgrün) Kleinräume jeweils südlich der Diphthongierungsgrenzen, an denen ein Zusammenfall stattgefunden hat, sowie punktuelle Zusammenfälle, die durch abweichende Belege eingezeichnet sind – hier werden beide Phoneme mit [a͡ɪ] realisiert. Geht man von den Überblendungen der Karten aus, hat das den folgenden Zusammenhang: Wo die Dialektmonophthongierung für mhd. /ei/ bereits im Gange oder vollzogen war, konnte sich die frühneuhochdeutsche Diphthongierung für mhd. /î/ problemlos ausbreiten. Wo die Dialektmonophthongierung für mhd. /ei/ noch nicht im Gange war, stoppt die frühneuhochdeutsche Diphthongierung und die Phoneme fallen zusammen. Das Stoppen der frühneuhochdeutschen Diphthongierung und der damit einhergehende Zusammenfall, der auf Einzelorte und Kleinräume beschränkt ist, stellen eine Extremreaktion auf eine damals stattfindende Phonemkollision dar.
Eine andere Reaktion auf eine drohende Phonemkollision zeigt die zweite Synthesekarte zu den „Ausweichformen“ des Altdiphthongs, deren Räume unmittelbar an die Zusammenfallsgebiete der ersten Synthesekarte grenzen:
Für die Lautbedingung /vor Konsonant/ wurden Teilräume des Altdiphthongs so klar verändert, dass eine auditive Verwechslung mit den beiden Phonemen sowie eine Phonemkollision ausgeschlossen waren. Es entstehen Varianten wie [ho͡as] , [zo͡af], [zɔ͡ɪf], [ko͡a] oder [kɔ͡ɪ]. In diesem Fall wurden also Distinktionsstabilisierungen erreicht, indem sparsame phonetische Modifikationen der SprecherInnen vorgenommen wurden. Sparsam, da es, um z.B. von einem [a͡ɪ] zu einem [ɔ͡ɪ] zu gelangen, genügt, die erste Komponente in seiner zentralen Zungenposition velar zu heben.
Neben den beiden aufgezeigten Prozessen, die sich als Reaktionen auf den Phonemzusammenfall von Alt- und Neudiphthongen ergeben, konnte ich in meiner Masterarbeit weitere Reaktionen analysieren, die in Schmidt et al. (angenommen) nachvollzogen werden können.
Fazit
Was verrät uns die Analyse der hessischen Dialekte über den Zusammenfall der beiden Lautreihen, der das moderne Deutsch prägt, in den Dialekten aber bis heute nicht vollzogen wurde? Von ausschlaggebender Bedeutung für die Entstehung der neuhochdeutschen Schriftsprache, die unserer heutigen Standardsprache zugrunde liegt, war der (ost-)mitteldeutsche Sprachraum. Die zum Teil progressiven, zum Teil archaischen hessischen Dialekte lassen erkennen, dass das Aufeinandertreffen der frühneuhochdeutschen Neuerungen mit den im Mitteldeutschen konservativen Altzuständen zu verschiedenen Reaktionen geführt hat, die in diesem Beitrag aufgezeigt wurden, nämlich: 1. zu Ausweichformen des Altdiphthongs, die zu Distinktionsstabilisierungen führen, aber 2. auch zum Phonemzusammenfall. Als Ergebnis lässt sich festhalten, dass der Zusammenfall von Alt- und Neudiphthongen in der Mündlichkeit vorbereitet wurde, um sich in der Schrift- und Standardsprache vollständig durchzusetzen.
In meinem Dissertationsprojekt werden nun die velaren Reihenglieder der beiden Lautreihen untersucht, also mhd. /û/ und mhd. /ou/.
Literatur
Paul, Hermann (2007): Mittelhochdeutsche Grammatik. 25. Auflage, neu bearbeitet von Thomas Klein, Hans-Joachim Solms und Klaus Peter Wegera, mit einer Syntax von Ingeborg Schrobler, neubearbeitet und erweitert von Heinz-Peter Prell. Tübingen: Niemeyer.
Schmidt, Jürgen Erich / Joachim Herrgen / Roland Kehrein / Alfred Lameli (2008ff.): Regionalsprache. de (REDE). Forschungsplattform zu den modernen Regionalsprachen des Deutschen. Teil 6: REDE SprachGIS – Das forschungszentrierte sprachgeographische Informationssystem von Regionalsprache.de. Marburg: Forschungszentrum Deutscher Sprachatlas.
Schmidt, Jürgen Erich / Dennis Beitel / Marina Frank / Luisa Gerstweiler / Vanessa Lang (angenommen): Der digitale hessische Sprachatlas (DHSA). In: Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik.
Schmidt, Jürgen Erich (2021): ‘he’ statt ‘er’: Nordseegermanisches im hessischen Sprachmuseum. Sprachspuren: Berichte aus dem Deutschen Sprachatlas 1(1).
Schmidt, Wilhelm (2020): Geschichte der deutschen Sprache. Ein Lehrbuch für das germanistische Studium. Teil 2: Althochdeutsch, Mittelhochdeutsch und Frühneuhochdeutsch. 12. Aufl. Stuttgart: Hirzel.
Diesen Beitrag zitieren als:
Lang, Vanessa. 2022. Phonemzusammenfall von altdeutschen und frühneuhochdeutschen Diphthongen in hessischen Dialekten? In: Sprachspuren: Berichte aus dem Deutschen Sprachatlas 2(2). https://doi.org/10.57712/2022-02.