Was lässt sich aus den dänischen Wenker-Daten lernen?

Karte des deutsch-dänischen Grenzgebiets mit der Verteilung von Ortspunkten auf preußische Kreise.

Dänisch im Deutschen Sprachatlas

Wer Germa­nis­tik studiert hat, dürfte von Georg Wenker und seinem Sprach­at­las des Deutschen Reichs gehört haben, dem dialek­to­lo­gi­schen Mammut­pro­jekt aus dem 19. Jahrhun­dert. Dass es in Wenkers Daten­er­he­bung um mehr ging als um deutsche Dialekte, ist dagegen weniger bekannt. Wenkers Ziel war, die Dialekte im gesamten Deutschen Reich zu erfassen. Dieser Staat war jedoch, erst recht an seinen geogra­phi­schen Rändern, nicht (nur) deutsch­spra­chig, sondern umfasste auch Regionen, in denen slawische und baltische Sprachen, Franzö­sisch, Friesisch oder Jiddisch gespro­chen wurden – genau so wie Dänisch, und zwar in Gestalt seiner südjü­ti­schen Dialekte. Im äußersten Norden des damaligen Preußen lag das frühere Herzogtum Schleswig. Dessen Südhälfte gehört heute zum Bundes­land Schleswig-Holstein, die Nordhälf­te seit 1920 zu Dänemark.

Karte der Herzogtümer Schleswig und Holstein. Eingezeichnet sind die Grenzen der beiden Herzogtümer.
Abb. 1: Herzog­tü­mer Schleswig und Holstein (modifi­zier­tes Werk (CC-BY-SA‑3.0). Original: commons.wikimedia.org/wiki/File:Karte_Deutsch-Dänischer_Krieg.svg von NordNordWest/Wikipedia (5. 10. 2020)).

Diese Region ist von frühester Zeit bis heute durch die Koexis­tenz von Deutsch und Dänisch geprägt (Höder 2019: 56–65; Höder/Kühl 2025). Ursprüng­lich war diese Region in weiten Teilen dänisch­spra­chig, auch wenn sich die Südgrenze des südjü­ti­schen Dialekt­ge­biets im 19. Jahrhun­dert allmäh­lich nach Norden verscho­ben hatte. Zum Zeitpunkt von Wenkers Daten­er­he­bung war die Gegend südöst­lich von Flensburg in der Alltags­kom­mu­ni­ka­ti­on auf dem Land schon zum Nieder­deut­schen überge­gan­gen. Nördlich und westlich war südjü­ti­scher Dialekt noch gebräuch­lich, südwest­lich war der Sprach­wech­sel in vollem Gang: Wie Wenker selbst in der Einlei­tung zu seinem Sprach­at­las anmerkt, sprachen dort nur Ältere unter sich noch Dänisch.

Alte, handgezeichnete Karte von Schleswig und Holstein. Eingezeichnet sind Grenzen, die das "rein dänische Gebiet" und das "rein deutsche Gebiet" markieren. Dazwischen ist auf der Höhe von Flensburg ein Streifen, der zu keinem der beiden Gebiete gehört. Darin sind einige Orte eingekreist, was "nur die Alten sprechen noch dänisch" bedeutet.
Abb. 2: Sprach­wech­sel in der Moment­auf­nah­me der Wenker-Erhebung (Wenker 2013: 5).

Der Sprach­wech­sel geschah natürlich nicht von heute auf morgen, sondern zog sich über mehrere Genera­tio­nen hin, letztlich über Jahrhun­der­te – mit einer langen Übergangs­pe­ri­ode, in der zumindest ein größerer Teil der Bevöl­ke­rung beide Sprachen sprach oder wenigs­tens verstand. In Nordfries­land waren zusätz­lich noch friesi­sche Dialekte in Gebrauch. In den Wenker-Bögen ist also auch die sprach­li­che Vielfalt dieser Region dokumen­tiert. Die dänischen Wenker-Daten finden sich dabei auf ganzen 287 Bögen.

Karte des Gebiets der Herzogtümer Schleswig und Holstein, auf der in verschiedenen Farben eingezeichnet ist, welche Wenkerbögen zu den preußischen Kreisen Apenrade, Flensburg, Hadersleben, Husum, Sonderburg und Tondern gehören. Die meisten Bögen gehören zum Kreis Hadersleben ganz im Norden.
Abb. 3: Geogra­phi­sche Vertei­lung der dänischen Wenker-Bögen nach preußi­schen Kreisen (Höder 2022: 33).

Das klingt für germa­nis­ti­sche Ohren angesichts von über 50.000 Wenker-Bögen insgesamt vielleicht nicht viel, aber: Flächen­mä­ßig deckt das Material in etwa ein Siebtel des gesamten dänischen Sprach­ge­biets ab. Es ist also allein in quanti­ta­ti­ver Hinsicht durchaus eine inter­es­san­te dokumen­ta­ri­sche Ressource für die (histo­ri­sche) dänische Dialek­to­lo­gie. Das gilt erst recht, weil es vergleich­bar umfas­sen­de Daten­samm­lun­gen aus dieser Zeit für das Dänische sonst nicht gibt; das klassi­sche dialekt­geo­gra­phi­sche Werk aus dieser Zeit (Bennike/Kristensen 1898–1912) basiert auf einer viel weniger syste­ma­ti­schen Datenerhebung.

Die dänischen Wenker-Bögen im Dornröschenschlaf

Umso mehr überrascht auf den ersten Blick, wie wenig das Material in der dänischen Dialek­to­lo­gie über lange Zeit beachtet worden ist. Auf den zweiten Blick gibt es dafür vielleicht keine zwingen­den, aber doch immerhin nachvoll­zieh­ba­re Gründe. Der offen­sicht­lichs­te ist ein prakti­scher: Die Wenker-Bögen lagen physisch in Marburg im Archiv und sind bis zur Digita­li­sie­rung des gesamten Materials nie veröf­fent­licht worden. Dänische Dialektolog:innen konnten die Bögen also kaum auswerten, und für germa­nis­ti­sche waren sie weniger inter­es­sant. Der zweite Grund ist ein politi­scher: Dass das frühere Herzogtum Schleswig zu Preußen gehörte, war eine Folge des Deutsch-Dänischen Krieges, den Dänemark 1864 verloren hatte. Es besaß damit zwar noch einige überseeische Gebiete, hatte aber nach dem Verlust Norwegens 1814 nun alle terri­to­ria­len Ambitio­nen auf dem europäi­schen Festland aufgeben müssen. Als Folge orien­tier­te und definier­te sich Dänemark neu, und zwar nach innen: Im eigenen Selbst­ver­ständ­nis war Dänemark fortan ein kleiner, ethnisch und sprach­lich homogener Natio­nal­staat. Die südjü­ti­schen Dialekte im Ausland mit ihrer kompli­zier­ten Nachbar­schaft zum Deutschen gerieten so in der Sprach­wis­sen­schaft zwar nicht in Verges­sen­heit, aber doch etwas aus dem Blick.

Der Dornrös­chen­schlaf der dänischen Wenker-Bögen hatte aber auch wissen­schaft­li­che Gründe: Die wenigen Arbeiten namhafter dänischer Dialektolog:innen, die sich mit dem Material überhaupt beschäf­tig­ten, stellten ihm nämlich ein schlech­tes Zeugnis aus (Ringgaard 1964, Bjerrum 1976). Sie kriti­sier­ten vor allem die Erhebungs­me­tho­de, die das Material praktisch unbrauch­bar mache. Durch das Überset­zen der 40 Wenker-Sätze aus dem Standard­deut­schen fabri­zier­ten die Gewährs­per­so­nen sprach­li­che Struk­tu­ren, die dem Standard­deut­schen mehr ähnelten als dem jewei­li­gen Dialekt, sodass die entstan­de­nen Überset­zun­gen als Belege für den authen­ti­schen Dialekt nicht viel taugten. Außerdem bemän­gel­te man den Inhalt der Sätze, die ja konstru­iert waren, um vor allem Laute und Formen in deutschen Dialekten abzufra­gen (was für die dänische Dialek­to­lo­gie irrele­vant war). Inhalt­lich mussten die Sätze deshalb umso seltsamer wirken: Sein Bruder will sich zwei schöne neue Häuser in eurem Garten bauen (Satz 33) – wie kommt der denn dazu? Und wessen Bruder überhaupt?

Screenshot von Wenker-Satz 33 in Kurrentschrift: "Hans Broer vil býg seg to ný kóen Huus i jer Kalgaar."
Abb. 4: Wenker-Satz 33 in der südjü­ti­schen Überset­zung aus Bülderup (Bogen 46838).

Solche Kritik­punk­te sind natürlich berech­tigt. Sie treffen aller­dings auf die deutschen Daten im Grunde genauso zu. Der Wert des Wenker-Materials liegt dementspre­chend nicht unbedingt in den Infor­ma­tio­nen, die ein einzelner Bogen liefern kann, sondern in der Masse der Daten. Sie ermög­licht trotz aller Mängel Aussagen zu Tendenzen, vor allem in der geogra­phi­schen Vertei­lung sprach­li­cher Merkmale. Diese Möglich­keit besteht aber wiederum auch für die dänischen Daten.

Seit 2016 habe ich mich (neben und mit anderen) häufiger mit den dänischen Wenker-Daten beschäf­tigt (Höder/Winter 2016, Höder 2022; vgl. außerdem z. B. Fleischer 2017, Fleischer/Vikner 2022). Anders als in früherer Forschung zeigt sich dabei, dass man durchaus sehr viel aus dem Material lernen kann – und zwar gerade mit Blick auf den Einfluss des Deutschen auf die südjü­ti­schen Dialekte. Es stimmt nämlich, dass im dänischen Material recht viel Deutsches zu entdecken ist. Das beruht auch durchaus zum Teil auf Wenkers Erhebungs­me­tho­de – aber viel mehr noch liegt es an den Auswir­kun­gen des Sprach­kon­takt auf die Dialekte selbst.

Dänischer Dialekt deutsch (und dänisch) geschrieben

Ein Punkt, der ganz offen­sicht­lich mit der Erhebungs­me­tho­de zu tun hat, ist die schrift­li­che Wieder­ga­be des Dialekts (vgl. Höder 2022: 34). Die aller­meis­ten Wenker-Bögen wurden von Lehrern ausge­füllt, denen beim Schreiben des jewei­li­gen Dialekts nur die normale Ortho­gra­phie zur Verfügung stand, oft angerei­chert durch Zusatz­zei­chen, die zum Beispiel Länge oder Kürze von Lauten markieren sollten. Bei den dänischen Bögen kamen dafür im Prinzip zwei Ortho­gra­phien in Frage, nämlich die deutsche und die dänische – je nach den Sprach­kennt­nis­sen der jewei­li­gen Schreiber. Das führt zu inter­es­san­ten Verwick­lun­gen, die manchmal auch einer sprach­wis­sen­schaft­li­chen Analyse im Weg stehen. Auf dem Bogen aus Sollwitt, ganz im Südwesten des südjü­ti­schen Dialekt­ge­biets, sind die Wenker-Sätze beispiels­wei­se mithilfe der dänischen Ortho­gra­phie verschrif­tet. Hier heißt Satz 19 (im Original: Wer hat mir meinen Korb mit Fleisch gestohlen?) folgen­der­ma­ßen:

Ven har tauen med min Karre mit Kjör.
wer hat genommen mir meinen Korb mit Fleisch

Screenshot von Wenker-Satz 19: "Ven har tauen med min Karre mit Kjör."
Abb. 5: Wenker-Satz 19, Sollwitt (Bogen 46594).

Inter­es­sant ist hier die Form med: Sie sieht zwar aus wie die standard­dä­ni­sche Präpo­si­ti­on med (‚mit‘), steht hier aber für die oblique Form des Perso­nal­pro­no­mens der 1. Person Singular (‚mich/mir‘; standard­dä­nisch mig). Der gemein­sa­me Nenner ist die Ausspra­che: Im Dialekt der Region klangen die Präpo­si­ti­on und das Pronomen gleich, nämlich so wie (in regio­na­ler Ausspra­che) das standard­dä­ni­sche med, also ungefähr [mɛ]. Da in dieser Gegend das auslau­ten­de -d auch in der regio­na­len Ausspra­che des Standard­dä­ni­schen stumm ist, bot sich ed für die Wieder­ga­be für [ɛ] gut an. Andere Bögen in dänischer Ortho­gra­phie schreiben sowohl für ‚mit‘ als auch für ‚mich/mir‘ entspre­chend zum Beispiel auch <me>, <mæ> oder <me’>. Bjerrum (1976: 33–34) hat dieses med in ihrer Analyse als ‚mit‘ missver­stan­den und daraus auf eine ganze Kette an Problemen im Überset­zungs­pro­zess geschlos­sen – zu Unrecht.

Wo die südjü­ti­schen Überset­zun­gen in deutscher Ortho­gra­phie wieder­ge­ge­ben sind, fallen noch weitaus mehr Beson­der­hei­ten auf. So ist aus Hoxtrup, einem Nachbar­ort von Sollwitt, in Satz 31 (im Original: Ich verstehe euch nicht, ihr müßt ein bißchen lauter sprechen.) zu lesen:

Er verſteher ihrem ik, ihm mutt ſnack á litt hö́ijer.
ich verstehe euch nicht ihr müsst sprechen ein bisschen lauter

Er verſteher ihrem ik, ihm mutt ſnack á litt hö́ijer.
Abb. 6: Wenker-Satz 31, Hoxtrup (Bogen 46645).

Hier erscheint der Vokal [ɛ] im Nominativ des Perso­nal­pro­no­mens der 1. Person Singular (‚ich‘) als Er. Auch bei dieser Schreib­wei­se ist die Ausspra­che der Schlüssel zum Verstehen: In der regio­na­len Ausspra­che des Standard­deut­schen hört man er auch heute noch als [ɛː] oder [ɛ], also ohne jedes hörbare r. Ebenso ist das <v> in <verſteher> wie im Deutschen als [f] zu lesen, das <ſt> wie in älterer norddeut­scher Ausspra­che als [st]; das <h> ist ein Dehnungs-h.

Inter­es­sant ist auch die Form <ihrem>: Gemeint ist hier die oblique Form des Perso­nal­pro­no­mens der 2. Person Plural (‚euch‘), phone­tisch [iə̯m] – in regio­na­ler deutscher Ausspra­che passt das recht gut zu <ihrem>. Der Kontrast zum Nominativ [iːm], hier geschrie­ben als <ihm>, bleibt dabei deutlich.

Dass es beim Gebrauch der deutschen Ortho­gra­phie häufig auf die regionale norddeut­sche Ausspra­che ankommt, zeigt auch ein Beispiel aus Bramstedt­lund (Bogen 46910). Der Wenker-Satz 6 (im Original: Das Feuer war zu heiß, die Kuchen sind ja unten ganz schwarz gebrannt.) heißt hier:

E Ild wor fo warm, e Kacher er ja neenunner heel ſort forbrän.
das Feuer war zu warm die Kuchen sind ja unten ganz schwarz verbrannt

Dabei gibt das <ch> in <Kacher> (‚Kuchen‘) passend zur deutschen Schrei­bung an, dass zwischen den beiden Vokalen ein ach-Laut gespro­chen wird ([x]). Das ist ein charak­te­ris­ti­sches südjü­ti­sches Dialekt­merk­mal; im Standard­dä­ni­schen gibt es diesen Laut nicht.

Karte von Dänemark und den Herzogtümern Schleswig und Holstein. Eingezeichnet ist die Aussprache von wortfinalem -g. Nur im Süden wird die Aussprache als "-ch" angegeben, nördlich davon als "-ch, - ɋ". Im dänischen Gebiet ist nur "-ɋ" angegeben.
Abb. 7: Vertei­lung von auslau­ten­dem [x] in jütischen Dialekten (Jysk Ordbog, Karte 4.2; www.jyskordbog.dk)
Legende zur nebenstehenden Karte.

Derselbe Laut wäre im Südjü­ti­schen zum Beispiel aller­dings auch am Ende des Wortes für ‚kochen‘ zu erwarten, das in Wenker-Satz 3 vorkommt (im Original: Thu Kohlen in den Ofen, daß die Milch bald an zu kochen fängt.). Hier finden wir für Bramstedtlund:

Lig Kaal i e Kakkelon, te e Mjälk ſnar begünner o kog.
leg Kohle in den Kachel­ofen dass die Milch bald beginnt zu kochen

Bedeutet das <g> am Schluss von <kog> nun, dass hier kein [x] gespro­chen wird? Wohl kaum. Eher hat der Schreiber zwar Hochdeutsch geschrie­ben, aber dabei in regio­na­lem Norddeutsch gedacht, wo <g> am Wortende je nach dem voran­ge­hen­den Laut immer wie ch gespro­chen wird, so wie in Tach (‚Tag‘) oder Zuch (‚Zug‘).

Die dänischen Wenker-Bögen bietet also auch einen inter­es­san­ten Ausgangs­punkt für die Frage, wie sprach­wis­sen­schaft­li­che Laien alle ihre Sprach- und Schreib­kennt­nis­se ausnutzen, um sprach­li­che Merkmale schrift­lich auszu­drü­cken, die nicht der standard­sprach­li­chen Norm entspre­chen, und zwar quer über die Sprachgrenze.

Sprachkontaktspuren im Wenker-Material

Syste­ma­ti­scher Einfluss des Deutschen zeigt sich vor allem in der Grammatik der südjü­ti­schen Dialekte, die im Wenker-Material dokumen­tiert sind. Dabei geht es vor allem um etwas komple­xe­re Struk­tu­ren, bei denen das Südjü­ti­sche zum Teil deutschen Mustern folgt und zugleich vom restli­chen Dänischen abweicht. Ein inter­es­san­tes Beispiel dafür – es gibt viele – sind die sogenann­ten nominalen externen Posses­so­ren (vgl. Höder 2022: 43–45). Im Standard­deut­schen finden wir solche Elemente in Sätzen wie diesen:

Sie warf ihrem Chef einen Stein an den Kopf.

Wessen Kopf ist gemeint? Der ihres Chefs. Der ‚Besitzer‘ (‚Possessor‘) wird hier durch ein Substan­tiv ausge­drückt (‚nominal‘), die im Satz auch an einer ganz anderen Stelle (‚extern‘) stehen als der ‚Besitz‘. Norma­ler­wei­se würden wir solche Besitz­ver­hält­nis­se im Deutschen mit Genitiven (‚der Kopf ihrer Chefin‘) oder Posses­siv­pro­no­mi­na (‚mein Bein‘) direkt neben dem ‚Besitz‘ ausdrü­cken, zum Beispiel so:

Sie warf einen Stein an den Kopf ihres Chefs.

Derge­stalt umfor­mu­liert klingt das Beispiel aber seltsam distan­ziert und gefühllos. Das ist kein Zufall. Wir setzen nominale externe Posses­so­ren nämlich vor allem dann ein, wenn wir ausdrü­cken wollen, dass der Besitzer von etwas in Mitlei­den­schaft gezogen wird, das eigent­lich dem Besitz wider­fährt: Der Stein trifft den Kopf, aber in Ohnmacht fällt der Chef. Diese Konstruk­ti­on kennt das Dänische so nicht. Statt­des­sen findet man präpo­si­tio­na­le Konstruk­tio­nen (in etwa ‚der Kopf an ihrem Chef‘) oder eben normale Besitz­kon­struk­tio­nen (‚der Kopf ihres Chefs‘).

Und das Südjü­ti­sche? Hier hilft ein Blick in Wenker-Satz 8, der im Original heißt: Die Füße thun mir sehr weh, ich glaube, ich habe sie durch­ge­lau­fen – schmerzen tun die Füße, aber der Leidtra­gen­de bin ich; deshalb die Formu­lie­rung mit dem nominalen externen Possessor mir. Inter­es­sant ist nun, dass dieser Satz im dänischen Wenker-Material mit verschie­de­nen Konstruk­tio­nen übersetzt wird. Wir finden einer­seits Varianten, die zu einer typisch dänischen Grammatik passen, so wie in Süder­wils­trup (Bogen 46969), wo der Besitzer mit einem Posses­siv­pro­no­men ausge­drückt wird:

Min Förrer gör grov undt, æ trōr, der er gan Ha͝al aa em.
meine Füße tun grob weh ich glaube es ist gegangen Loch auf sie

Anderer­seits gibt es auch Überset­zun­gen mit der typisch deutschen Struktur, so wie die aus Harrits (Bogen 47009):

Ae Förrer gjör grou undt, ä troer, ä ar löwwen Gaf aa em.
die Füße tun mir grob weh ich glaube ich bin gelaufen Loch auf sie

Die beiden Varianten sind nicht gleich häufig belegt: Einen nominalen externen Possessor verwenden 105 der Überset­zun­gen, während 163 den ‚Besitzer‘ auf eine typisch dänische Weise angeben; 19 Überset­zun­gen verwenden ganz andere Struk­tu­ren. Die deutsche Konstruk­ti­on wird also nicht so oft gebraucht wie die dänische, aber auch alles andere als selten (in 37 % der Fälle). Es scheint nicht plausibel, dass alle diese Überset­zun­gen auf Fehler im Überset­zungs­pro­zess oder auf mangelnde Dialekt­kom­pe­tenz der Gewährs­per­so­nen zurück­zu­füh­ren sind. Wahrschein­li­cher ist, dass nominale externe Posses­so­ren in der Grammatik der südjü­ti­schen Dialekte längst etabliert sind, und zwar als Folge des lang anhal­ten­den inten­si­ven Sprach­kon­takts zum Deutschen. Wenn das der Fall ist, wäre zu erwarten, dass sich dieses Merkmal auch in anderen Quellen wieder­fin­det – und das ist auch der Fall, wie Belege aus (nicht übersetz­ten) Dialekt­tex­ten zeigen. Außerdem dürfte sich der Sprach­kon­takt nicht überall gleich stark ausge­wirkt haben: Der Gebrauch der ursprüng­lich deutschen Konstruk­ti­on sollte sich mit zuneh­men­der Entfer­nung zum Deutschen abschwä­chen. In der Tat lässt sich ein solcher Effekt in den Wenker-Daten nachwei­sen: Nominale externe Posses­so­ren kommen zwar auch ganz im Norden des südjü­ti­schen Dialekt­raums vor, aber deutlich seltener als im Süden.

Karte des Grenzgebiets zwischen dem heutigen Deutschland und Dänemark. Eingezeichnet ist, hauptsächlich auf dänischem Gebiet, die Verteilung von nominalen Possessoren. Im Süden des Gebiets sind tendenziell mehr Orte vorhanden, für die das Vorkommen von externen Possessoren angegeben wurde, als im Norden.
Abb. 8: Nominale externe Posses­so­ren (rot = gewählt, blau = nicht gewählt, grau = nicht bestimm­bar; Höder 2022: 45).

Das lässt sich anhand einer Karten­dar­stel­lung visuell erkennen, aber auch statis­tisch nachwei­sen (das Vorkommen der Konstruk­ti­on korre­liert negativ mit der geogra­phi­schen Breite; die Korre­la­ti­on ist mit = −0,31214 moderat und mit < 0,0001 hochsi­gni­fi­kant). Dieses Bild entspricht mehr oder minder dem, was sich auch für andere südjü­ti­sche Merkmale zeigen lässt, die mutmaß­lich auf den Kontakt zum Deutschen zurückgehen.

Besser als der Ruf

Das dänische Wenker-Material ist in vielerlei Hinsicht mit Vorsicht zu genießen und natürlich nur begrenzt aussa­ge­kräf­tig. Der Elefant im Raum ist der Faktor Sprach­kon­takt: Auf den ersten Blick scheinen offen­sicht­li­che Neben­ef­fek­te der Erhebungs­me­tho­de die gewon­ne­nen Daten zu verfäl­schen, sodass man leicht zu dem vorei­li­gen Schluss kommen kann, das Material sei kaum zu gebrau­chen. Besten­falls zeige es, was man über die südjü­ti­schen Dialekte ohnehin schon wisse. Auf den zweiten Blick aber haben die Daten einiges zu bieten, gerade wenn man gewis­ser­ma­ßen aus der Not eine Tugend macht und gezielt nach Auswir­kun­gen des Sprach­kon­takts Ausschau hält. Dann stellt man fest: Deutscher Einfluss lässt sich nicht nur in einzelnen Wenker-Bögen feststel­len und mit Verweis auf metho­di­sche Mängel wegdis­ku­tie­ren, sondern ist ganz syste­ma­tisch im gesamten dänischen Material nachzu­wei­sen. Die plausi­bels­te Erklärung dafür ist, dass die entspre­chen­den Struk­tu­ren in den Dialekten fest etabliert waren, Erhebungs­me­tho­de hin oder her.

Das dänische Wenker-Material ist insgesamt also viel besser als sein Ruf. Aus der Arbeit mit ihnen kann man aber auch einiges über die Tücken der Forschung lernen: Dass es bis zu einer Neube­wer­tung des Materials so lange gedauert hat, hat mit prakti­schen und techni­schen Möglich­kei­ten zu tun, mit politi­schen Gegeben­hei­ten – aber auch mit Voran­nah­men, die unseren Blick auf sprach­li­che Daten prägen, aber eben auch verstel­len können.

Literatur

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Bjerrum, Marie (1976): Wenkers 40 sætninger på Fjoldemål 1880. In: Danske folkemål 21, 19–58.
Fleischer, Jürg (2017): Syntax und Arealität: Methoden und Resultate eines syntak­ti­schen Wenker-Atlas. In: Christen, Helen/Peter Gilles/Christoph Purschke (Hg.), Räume, Grenzen, Übergänge. Akten des 5. Kongres­ses der Inter­na­tio­na­len Gesell­schaft für Dialek­to­lo­gie des Deutschen (IGDD) (Zeitschrift für Dialek­to­lo­gie und Lingu­is­tik. Beihefte. 171). Stuttgart: Steiner, 137−164, 389−391.
Fleischer, Jürg/Sten Vikner (2022): Findes der OV-sprog som også tillader VO? Om og-infini­ti­ver i Sydsles­vig. In: Ny forskning i grammatik 29, 28–49. DOI: 10.7146/nfg.v1i29.132898
Höder, Steffen (2019): Die deutsch-dänische Grenze von 1920 als Zäsur. In: Palliwoda, Nicole/Verena Sauer/Stephanie Sauer­milch (Hg.): Politi­sche Grenzen – Sprach­li­che Grenzen? Dialekt­geo­gra­phi­sche und wahrneh­mungs­dia­lek­to­lo­gi­sche Perspek­ti­ven im deutsch­spra­chi­gen Raum (Lingu­is­tik – Impulse & Tendenzen. 83). Berlin/Bosten: de Gruyter, 55–76. DOI: 10.1515/9783110571110-004
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Höder, Steffen/Christoph Winter (2020). Deutsches im Südjü­ti­schen, Südjü­tisch im deutschen Dialekt­at­las. Zur Validität der südjü­ti­schen Wenker-Materialien. In: Fleischer, Jürg/Alfred Lameli/Christiane Schiller/Luka Szucsich (Hg.), Minder­hei­ten­spra­chen und Sprach­min­der­hei­ten. Deutsch und seine Kontakt­spra­chen in der Dokumen­ta­ti­on der Wenker-Materialien (Deutsche Dialekt­geo­gra­phie. 126). Hildes­heim: Olms, 57–96.
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Steffen Höder
Steffen Höder ist Professor für skandinavistische Sprachwissenschaft am Institut für Skandinavistik, Frisistik und Allgemeine Sprachwissenschaft der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Er arbeitet sprachübergreifend und zu den nordischen Sprachen, also Dänisch, Färöisch, Isländisch, Norwegisch und Schwedisch. Er forscht aus arealer, soziolinguistischer, sprachgeschichtlicher und konstruktionsgrammatischer Perspektive zu Sprachkontakt und Mehrsprachigkeit, Phonetik, Phonologie, Sprachausbau und Sprachstandardisierung.