Zum Dialekt des Dorfes Winzerla bei Jena

Karte der Dialekte in Thüringen

Das aus einer mittel­al­ter­li­chen Weinbau­ern­sied­lung hervor­ge­gan­ge­ne Dorf Winzerla – 2025 feiert der Ort 700 Jahre urkund­li­che Ersterwäh­nung – ist heute mit zahlrei­chen Neubauten in der einstigen Feldflur ein Stadtteil der Univer­si­täts­stadt Jena. Der alte Dorfkern um die barocke Kirche erstreckt sich entlang einer Handvoll kleinerer Gassen. Hier gab es bis in das Jahr 1960/61, also vor der Überfüh­rung der bäuer­li­chen Betriebe in eine Landwirt­schaft­li­che Produk­ti­ons­ge­nos­sen­schaft (LPG), rund zwei Dutzend Bauern­ge­höf­te im Voll- oder Nebenerwerb. 

Auch mancher in anderen Berufs­zwei­gen tätige Bewohner war als Halter von Hühnern, Kaninchen, einer Ziege oder eines Schweins mit landwirt­schaft­li­cher Arbeit vertraut. Das ist insofern von Bedeutung, als nämlich der lokale Dialekt mit seiner Verwur­ze­lung in der ländli­chen Lebens- und Arbeits­welt von einem Großteil der ansäs­si­gen Bevöl­ke­rung gespro­chen oder doch verstan­den wurde. Einiges zu den damaligen Verhält­nis­sen im Ort erfährt man im Kapitel „Man hatte ja keine Auswahl. Bauern­ar­beit in Winzerla vor und nach dem Krieg“ in der Broschüre „Mir hat der Ort immer gefallen. Geschich­te und Geschich­ten aus Winzerla“ (Warncke-Seithe 2005, 25–30). Zur älteren Geschich­te Winzerlas äußert sich Reinhard Jonscher (2012, 347–359) in dem Band „Von Ammerbach bis Zwätzen. Geschich­te der Jenaer Vororte“.

Abb. 1: Winzerla von Südost, 1938 (Aquarell von Hans Fischer, Städti­sche Museen Jena)

Was den Winzer­laer Dialekt einst auszeich­ne­te, wissen wir unter anderem aus Erhebun­gen, die Marburger Hochschul­ger­ma­nis­ten im 1876 begrün­de­ten Forschungs­be­reich „Deutscher Sprach­at­las“ in den Jahren 1879/80 und 1939/40 vorge­nom­men hatten. Im Rahmen des Programms zur Dokumen­ta­ti­on der Vielfalt der Mundarten oder Dialekte im ehema­li­gen Deutschen Reich verschick­ten sie in alle damaligen Schulorte Frage­bö­gen, die von den Volks­schul­leh­rern in Zusam­men­ar­beit mit ihren Schülern zu beant­wor­ten waren. Für den Schulort Burgau/Winzerla übernahm 1880 der in der Nähe von Magdeburg geborene Ferdinand Seemann die Aufgabe; dieser notierte damals auch, dass die Dorfbe­woh­ner keine spezielle Tracht in ihrem alltäg­li­chen Leben trugen. 1940 beant­wor­te­te der Lehrer Max Schneider aus Viesel­bach bei Weimar zusammen mit seiner Schul­klas­se die Fragen. Der Auftrag bestand jeweils darin, die auf dem Frage­bo­gen vorge­ge­be­nen, schrift­sprach­lich und (zumeist) überre­gio­nal gültigen Wörter und Sätze in die ortsüb­li­che –ilmthü­rin­gi­sche (vgl. Abb. 2)Mundart zu überset­zen. Die Erhebung von 1880 hatte primär zum Ziel, den Lautbe­stand der jewei­li­gen Mundart zu erfassen; in der Erhebung von 1940 ging es um den lokalen Wortschatz. Die Frage­bö­gen mit den Antworten sind im „Forschungs­zen­trum Deutscher Sprach­at­las“ in Marburg archi­viert; der Fragebogen von 1879/80 kann inzwi­schen auch im Internet in der Wenkerbogen-App einge­se­hen werden: apps.dsa.info/wenker.

Die dort aufge­führ­ten „Muster­sät­ze“, die sogenann­ten Wenkersätze, sind nach dem Marburger Sprach­wis­sen­schaft­ler Georg Wenker (1852–1911) benannt, der mit diesen Sätzen das Lautin­ven­tar der Ortsdia­lek­te im Lande zu erfassen suchte, um anschlie­ßend das Ergebnis auf Karten zu übertra­gen und so die räumliche Verbrei­tung für diesen Teil des Sprach­ge­brauchs sichtbar zu machen sowie ggf. Erklä­run­gen für die jewei­li­gen Verhält­nis­se zu geben. Im handge­zeich­ne­ten „Sprachatlas des Deutschen Reichs“ (Wenker 1888–1923) ist das Ergebnis der Frage­bo­gen­ak­ti­on festge­hal­ten. Der abgefrag­te Wortschatz anderer­seits kann in dem vielbän­di­gen Werk „Deutscher Wortatlas“ (DWA) einge­se­hen werden. 

Abb. 2: Dialekte in Thüringen. Michael Sander, deriva­ti­ve work: Andre Riemann, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=8734771

Die Burgau/Winzerla betref­fen­den Frage­bö­gen wurden von mir für diesen Beitrag ausge­wer­tet und um eigene Beobach­tun­gen ergänzt.

Als Beson­der­heit im Konso­nan­tis­mus der damaligen Winzer­laer (und Burgauer) Mundart ist festzuhalten:

-nt-/-nd- > ‑ng-: Winger (Winter), ongen (unten), hinger (hinter), gefonge (gefunden), wengen (wenden)
-nd- > ‑nn-: de annern (die anderen), Kinne­rei­en (Kinde­rei­en)
-ld-/-lt- > ‑l(l): dar ahle (der alte), ins kahle (ins kalte), balle (bald), uf’n Felle (auf dem Felde)
-pf/ ‑pf-> ‑pp: Topp (Topf), Töpper (Töpfer), Äppel­bem­chen (Apfel­bäum­chen)
-rst/-rst- > -rscht-: Dorscht (Durst), Bärschte (Bürste)

Im Vokalis­mus wurden Diphthon­ge zu Monoph­thon­gen umgewandelt:

au > o: roochen (rauchen), ech gloobe (ich glaube), dorch­ge­loo­fen (durch­ge­lau­fen), och (auch), Ogenblick­chen (Augen­blick­chen); dazu Kürzungen wie drussen (draußen), uff (auf)
ei > e: Kleeder­schrank (Kleider­schrank), heeß (heiß), Beene (Beine), zwee (zwei), Fleesch (Fleisch), Fleescher (Fleischer), Seefe (Seife).

Gerundete Diphthon­ge wurden entrundet:

eu/äu > ei: Beile (Beule), Feier (Feuer), neie Heiser (neue Häuser), eich (euch), heite (heute), Meirchen (Mäuerchen), Leite (Leute), neigierig (neugierig), nein (neun)

Daneben beherrsch­ten Vokal­sen­kun­gen die Aussprache:

i > e: ech (ich), emmer (immer), ben (bin), met (mit), Melch (Milch), mer (mir = wir), Tesch (Tisch), well (will), wedder (wieder)
e > a: umhar (umher), Watter (Wetter), met däm Pfare (mit dem Pferd), Pfaffer (Pfeffer), schlacht (schlecht), Schwaster (Schwester), basser (besser), Barge (Berge), racht (recht), sprache (ich spreche), gewasen (gewesen), bestallt (bestellt), vun Harzen (von Herzen), ha (niederd. he - er)
u > o: dorch (durch), Loft (Luft), Motter (Mutter), Dorscht (Durst), Hond (Hund), Gorke (Gurke), vun (von), gefonge (gefunden)

Anderer­seits gab es auch Vokalhebungen:

e > i: hingieh (hingehen), stieh (stehen), häme gieh (heim gehen), verstieht (versteht)
o > u: trucken (trocken), wullen (wollen), Kulle (Kohlen), Kuchl­ef­fel (Kochlöf­fel), huch (hoch), uhne (ohne), Ustern (Ostern), gruß (groß), Brud (Brot), su (so), schun (schon), geschmul­zen (geschmol­zen), uben (oben), gestuhlen (gestohlen),  gebruchen (gebrochen), Wuchen (Wochen), kuchen (kochen)
a > o: ech hoh (ich habe), soh (sage), schloh (schlage), hot’r (habt ihr), Gorten (Garten), Obend (Abend), kom (kam)

und Vokalent­run­dun­gen:

hiert (hört), Kreete (Kröte), schiene (schöne), Kuchl­ef­fel (Kochlöf­fel), biegeln (bügeln), Bärschte (Bürste), Äppel­bem­chen (Apfel­bäum­chen).

In der Erhebung von 1880 taucht regel­mä­ßig das eher für das nieder­deut­sche Dialekt­ge­biet typische maskuline Pronomen der 3. Person Singular ha statt er auf (niederdt. he, engl. he /hiː/). Während der nachste­hen­de Wortschatz im Winzerla der 1950er Jahre weitge­hend noch Verbrei­tung fand, war insbe­son­de­re für den Bereich des Vokalis­mus eine Nivel­lie­rung in Richtung der Schrift­spra­che zu beobach­ten. Diphthon­ge wie au und ei wurden oft noch monoph­thon­giert (roochen, Fleescher), eu entrundet (neigierig). Vokal­sen­kun­gen wie bei racht, Barge (recht, Berge) oder Konso­nan­ten­wech­sel wie bei wengen (wenden) oder der Plural Kübe (Kühe) waren allen­falls noch bei der vor 1914 geborenen Genera­ti­on üblich. Üblich war hingegen bei Namens­nen­nung die Zweit­stel­lung des Vornamens: (der) Büchner Harald, Stichs Peter, Gräfes ihre Beate.

Winzer­laer Wörter:

Ameise: Seechemse (rote Ameisen­art, die einen ätzenden Saft ausspritzt)
ausschla­gen (vom Pferd): schmeißen
Backtrog: Backmulle
barfuß: barwes, barbs’ch
belegte Brotschnit­te: Bemme
Brunnen: Born
fegen: kehren
Fertig­wer­de: Fert’chwäre (Gestell zum Abkühlen / Lagern runder Blech­ku­chen)
Frühling: Frühjahr
Futter­rü­be: Runkel
Gans (m.): Gansert
Halt den Mund!: Halt die Gusche!
Hebamme: Kindfrau
Iltis: Ratz (n.)
Jauche: Sutte
Kalb (f.): Mutschen­kalb
Kaninchen (zahm): Karneckel
Kartof­fel­puf­fer: Dätscher
Katze (m.): Katzert
Kiefern­zap­fen (pl.): Kuhmutsche, Kienäppel
kneifen: knieben
Knospe: Knuppe
Kreisel (Spielzeug): Dorle (f.)
(Ziegen-)Lamm: Heppchen
(Geld an jem.) leihen: borgen
Libelle: Wasser­jum­fer
Löwenzahn: Bimbaum
(Gras mit der Sense) mähen: hauen
(Korn mit der Sense) mähen: schneiten
Marien­kä­fer: Mutsche­kieb­chen
Nachharke: Rechen, (Verb) rechen
nachher: nachen
(rheto­ri­sche Versi­che­rung) nicht wahr?: gelle?
Ohrwurm: Ohren­knie­per
Pate, Patin: Gevatter, Gevat­te­rin
Pflaume: Quetschge
pflügen: ackern
Pflug­wen­de: Vorart (f.)
Werkzeug zum Durch­ste­chen von Leder: Pfrieme (f.)
Sense mit Hammer schärfen: dengeln
Wochentag vor Sonntag: Sonnabend
Roggen: Korn
Rotkraut: Blaukraut
Sauger: Nuckel
Schaufel: Schippe
(auf dem Eis) schlit­tern: glennern
Schorn­stein­fe­ger: Essen­keh­rer
Schub­kar­ren: Radeberle
Stangen­kä­se: (scherz­haft) Truthahn
Zugholz: Ortscheit (n.)
Viehbrem­se: Brähme
Ziege: Heppe
(Wagen) ziehen: zerren
weinen: heulen
der Weg zwischen den Häusern: der Weg durch die Häuser
Kirschen / Äpfel klauen: (von Kindern gebraucht) in die Kirschen / Äppel gehn
Kommandos an ein Pferde­ge­spann: hüa! (los!), harweg! (nach links!), hotteweg! (nach rechts!), janeweg! (geradeaus!)

Zu den gramma­ti­schen Beson­der­hei­ten der thürin­gi­schen Dialekte und mehr Infor­ma­tio­nen zum reich­hal­ti­gen Mundart­wort­schatz vgl. beispiels­wei­se Spangen­berg (1994).

Literatur

DWA = Deutscher Wortatlas (1951–1980). Hrsg. von Walther Mitzka und [ab Band 5] Ludwig Erich Schmitt. [Ab Band 18:] Redigiert von Reiner Hilde­brandt. 22 Bände. Gießen. 

Jonscher, Reinhard (2012). Von Ammerbach bis Zwätzen. Geschich­te der Jenaer Vororte. Jena (Bausteine zur Jenaer Stadt­ge­schich­te. 15).

Spangen­berg, Karl (1994). Kleines Thürin­gi­sches Wörter­buch. Rudol­stadt & Jena.

Warncke-Seithe, Eberhard (2005). Mir hat der Ort immer gefallen. Geschich­te und Geschich­ten aus Winzerla. Berar­bei­ter der Texte: Dr. Reinhard Jonscher. Jena.

Wenker, Georg (1888–1923). Sprach­at­las des Deutschen Reichs. Marburg: Handgezeichnet.

Diesen Beitrag zitieren als:

Nail, Norbert. 2025. Zum Dialekt des Dorfes Winzerla bei Jena. Sprach­spu­ren: Berichte aus dem Deutschen Sprach­at­las 5(1).