Wahlkämpfe können als Phasen verdichteter politischer Kommunikation aufgefasst werden, denn in ihnen spitzen sich die Positionskämpfe der Parteien auf einen ganz bestimmten, relativ kurzen Zeitraum zu, in ihnen werden Themen und Personen fokussiert. Eine zentrale Funktion der Wahlkampfkommunikation und der politischen Kommunikation insgesamt ist Persuasion, also der Versuch, Meinungen und Einstellungen der Adressat*innen zu beeinflussen, um letztlich möglichst viele Wähler*innenstimmen für die eigene Partei zu bekommen. Dabei konzentrieren sich die Akteur*innen auf prägnante, kurze Slogans oder Schlagwörter, um von der je eigenen Position zu überzeugen und um die eigene Anhängerschaft zu mobilisieren, wozu spezifische sprachliche Strategien bemüht werden. Die sprachlichen Strategien kommen in verschiedenen Wahlkampftextsorten und ‑redegattungen zur Geltung. Das Wahlprogramm spielt dabei eine zentrale Rolle, denn auf diesen Text lassen sich alle anderen Wahlkampftextsorten und ‑redegattungen zurückführen. Wahlprogramme gelten mitunter aber als klassische Bleiwüsten. Sie sind nicht nur lang, sondern auch – gespickt mit Fremd- und Fachwörtern beispielsweise – sprachlich komplex. Deshalb gibt es Plakate, Flyer, Kurzprogramme und solche in Leichter Sprache, um die breite Wählerschaft und bestimmte Rezipientinnen und Rezipienten zu erreichen.
Wahlkampfsprache von CDU und SPD
Die beiden Parteien SPD und CDU eint vor allem der Fokus auf das Thema Bildung. Ein Blick in beide Wahlprogramme zeigt, dass das Lexem Schulen bei beiden Parteien zu den zehn häufigsten Substantiven gehört. Bildung kommt im Wahlprogramm der CDU 41-mal vor und im SPD-Wahlprogramm 47-mal. Bildung ist somit das am häufigsten genannte Wahlkampfthema (in Relation zu den Themen Sicherheit, Mobilität, Gesundheit, Wohnen) beider Parteien. Neben den Themen sind vor allem die multimodalen kommunikativen Strategien hervorzuheben, die die Wahlkampfrhetorik prägen. Diese fokussieren sich u. a. auf die Imagepflege des Spitzenkandidaten/der Spitzenkandidatin. So präsentiert sich im Wahlkampfspot der CDU Boris Rhein als großmütiger und anerkennender Landesvater, indem er aus dem Off ins Bild gesetzte „normale“ Menschen und Orte als wichtig und zukunftsentscheidend benennt. Konsequenz und Führungsstärke signalisiert er mit der Absicht, die Ausbildung von Handwerksmeistern sowie den Erwerb von Eigenheim kostenlos und steuerfrei zu gestalten. Während die Integration eher von selbst auf den Sportplätzen geschehen soll, gilt seine aktive Solidarität den weißen und älteren Menschen des Mittelstandes. Der CDU-Slogan Hessen weiterführen spielt in diesem Zusammenhang rhetorisch mit einer Doppeldeutigkeit: Während Rhein als Landesvater Hessen weiter führen will (Kontinuität), soll die Entwicklung des Landes weitergeführt werden (Progressivität). Spitzenkandidatin Faeser streicht im SPD-Wahlwerbespot demgegenüber vor allem ihre hessischen Wurzeln heraus. Sie gewährt Einblicke in ihre Kindheit, in ihren beruflichen Werdegang und in ihre anhaltende Verbundenheit mit Hessen durch ihre Familie. (Eine ähnliche Strategie findet sich auf der Website des grünen Politikers Tarek Al-Wazir, der grünen Politikerin Angela Dorn und des FDP-Politikers Stefan Naas, s. u.) Ihre gegenwärtige Funktion als oberste und strenge Dienstherrin der bundesrepublikanischen Exekutive bleibt unerwähnt. Stattdessen lässt sie die Zuschauenden durch innere Monologe in idyllischer Park- und Naturlandschaft an ihren empathischen Wünschen für die Hess*innen teilhaben. In ihrer direkten Ansprache an die Bürger*innen in der Schlusssequenz zeigt sie sich jedoch ebenfalls entschlossen und visionär, indem sie ihre feste Absicht bekundet, Hessen mit neuen Fachkräften wieder (!) an die Spitze zu bringen. Diese geäußerte Comeback-Strategie verbleibt jedoch ohne konkreten Bezug. Während die persönlichen Social-Media-Kanäle von Boris Rhein den CDU-Kandidaten eher uneinheitlicher und im persönlichen Austausch auf Veranstaltungen und mit Politiker-Kolleg*innen zeigen, rahmen ihn die CDU-Auftritte mit zugespitzten Botschaften im einheitlichen grau-blau-weißen Design. Immer wieder taucht der Hauptslogan „Hessen weiterführen“ wie ein Stempel sowie als Hashtag #hessenweiterfuehren auf, häufig gepaart mit #starkeshessen. Auch hier tritt die oben bereits beschriebene Doppeldeutigkeit von Kontinuität und Progressivität deutlich zu Tage. Wie diese Absichten konkreter umgesetzt werden sollen, deuten die etwas überspitzten Botschaften wie „Kurs oder Chaos“, „Freiheit oder Verbote“, „Stabilität oder Streit“, „Chancenschule vs. Einheitsschule“ an, die sloganhaft sowie polarisierend der Strategie ‚Aufwertung durch Abgrenzung‘ folgen. Klarer politischer Gegner ist weniger die SPD-Spitzenkandidatin, sondern die Ampelregierung im Bund, was sich im Hashtag #ampelfrei niederschlägt und auch im Wahlplakat (Abb.1) deutlich wird.
Damit inszeniert sich die Hessen-CDU und Boris Rhein zur ordnenden und stabilisierenden Regierungsinstanz im Gegensatz zu einer ebenfalls möglichen Ampel in Hessen. Innovation und Aufbruch sind die zentralen Botschaften des digitalen Wahlkampfs der Hessen-SPD, was durch folgende Formulierungen flankiert wird: „Hessen wieder gestalten“; „wieder Ehrgeiz und frische Ideen“; „Gestaltungswille“; „Hessen stark für die Zukunft machen“; „mit Nancy Faeser eine Ministerpräsidentin bekommen, die gestalten will und Zukunftsfragen anpackt“; „Nancy Faeser will das Land gestalten und Richtung Zukunft führen. Zeit für den Wechsel in Hessen!“. Gleichzeitig ergibt sich dadurch eine Abgrenzung zur CDU Hessens, der Stillstand und Rückwärtsgewandtheit unterstellt wird, wie die folgenden Formulierungen verdeutlichen: „25 Jahre CDU-Verwaltung“; „nur noch Mittelmaß“; „Rückstände der letzten 25 Jahre beheben“; „mehr als 24 Jahre CDU-geführte Landesregierung hinterlässt ihre Spuren in Hessen“; „handeln, statt tatenlos zuzuschauen, wie es die CDU-geführte Landesregierung aktuell macht“. Die SPD inszeniert sich dabei nicht nur als Partei, die anpackt (‚Anpacker‘-Framing), sondern auch als eine, die sich kümmert (‚Kümmerer‘-Framing). Außer in Formulierungen wie „Mieter besser schützen“ äußert sich dies in der wiederholt auftretenden Formulierung „[die SPD/Nancy Faeser] steht fest an der Seite von [Industrie, Handwerk etc.]“, die zudem multimodal durch die visuelle Darstellung eines Schulterschlusses Faesers mit unterschiedlichen Fachkräften untermauert wird:
Wahlkampfsprache von FDP und den Grünen
Das Wahlprogramm der FDP umfasst 120 Seiten und ist in knalligen Farben gestaltet. Das der Grünen ist mit 80 Seiten kürzer und vom Textdesign her wesentlich nüchterner. In beiden Programmen werden mit unterschiedlicher Gewichtung erwartbare Themen behandelt: Von Bildung über Wirtschaft und Finanzen bis hin zu Umwelt und Klimaschutz. Bei der FDP liegt quer zu allem das Thema Digitalisierung, bei den Grünen das Thema Klima. Das meistverwendete Schlagwort in beiden Programmen ist das Personalpronomen wir. Bei der FDP kommt es 911-mal vor und bei den Grünen 1421-mal. Auffällig ist, dass es in sehr unterschiedlichen Bedeutungen vorliegt: Wird bei der FDP mit wir in den meisten Fällen die Eigengruppe, also die Partei, angesprochen (in häufig vorkommenden Sätzen wie Wir wollen/fordern X), beziehen die Grünen größere Gruppen ein, etwa die in Hessen lebenden Bürger*innen. Man unterscheidet dabei zwischen einem exklusiven (FDP) und einem inklusiven (Grüne) wir. Ein Beispiel für Letzteres ist der freundliche Imperativ (Handlungsaufforderung) bei den Grünen: Gehen wir gemeinsam den nächsten Schritt. Davon einmal abgesehen werden in beiden Wahlprogrammen viele Vorhaben im Modus der Ankündigung formuliert („Wahlversprechen“), ohne diese sprachlich mit dem Verb versprechen zu benennen, was sprachstrategisch auch nicht klug wäre, weil man darauf im Nachhinein von der Wählerschaft festgelegt werden könnte. Insbesondere am Vokabular der FDP fällt auf, dass hergebrachte parteitypische Wörter wie Eigenverantwortung, Leistung, Marktwirtschaft oder Wachstum nur selten auftauchen. Lediglich das Hochwertwort Freiheit ist mehr als 20-mal belegt. In Krisenzeiten erfolgt im öffentlich-politischen Sprachgebrauch und damit auch in der Wahlkampfkommunikation die Legitimation politischen Handelns aus bestimmten, miteinander vernetzten Typen von Gründen (Römer 2017): Datentopos (als das Beschreiben einer Ausgangssituation), Ursachen-Topos (als das Anführen von Ursachen; häufig auch im Sinne einer Schuldzuschreibung), Topos aus den Maximen (Werte, mit denen argumentiert wird) und Finaltopos (Handlungsziele, mit denen argumentiert wird). Sucht man in den Programmen nach dem Wort Krise, findet man bei der FDP vier Themen, innerhalb derer mit Krise argumentiert wird: Steuern und Finanzen, Migration, Europa sowie Digitalisierung. Die Grünen sehen eine Krise konkret im Bereich Kultur und daneben die Klimakrise, die mindestens implizit alle im Programm aufgeführten Themen berührt. Im Wahlprogramm der FDP sieht eine solche Krisen-Argumentation wie folgt aus: Zunächst wird eine Ausgangssituation beschrieben (Datentopos): Städte und Gemeinden würden unter finanziellen Einbußen leiden. Diese Ausgangssituation wird erklärt aus bestimmten Ursachen (Ursachen-Topos), und da kommen dann die Krisen ins Spiel: Zum einen ist die Rede vom „Krieg in der Ukraine“ und einer dadurch ausgelösten „Krisenstimmung“, zum anderen von der „Corona-Pandemie“. Vor dem Hintergrund des Leitbildes möglichst autonomer Kommunen (Topos aus den Maximen) und des Ziels, „kommunale Selbstverwaltung [zu] erhalten und [zu] stärken“ sowie „finanzielle Souveränität der Städte und Gemeinden [zu] erweitern“ (Finaltopos), wird beispielsweise gefolgert, dass es besser sei, die sogenannte Gewerbesteuerumlage abzuschaffen. Bei den Grünen liegt der Fokus auf der Betonung einer „Klimakrise“. Diese wirke sich negativ auf verschiedene gesellschaftliche Bereiche aus, weshalb bestimmte politische Handlungen notwendig seien, um Schlimmeres zu verhindern. Im Sinne der inkludierenden Sprachverwendung bei den Grünen könne die Krise am besten gemeinsam bewältigt werden. Auch der Internetauftritt beider Parteien verrät ein Bewusstsein um Krisen, die zur Legitimation politischer Handlungen genutzt werden. Die FDP versprachlicht Krisen dabei wesentlich häufiger und expliziter als die Grünen. Im Gegensatz zu den Wahlprogrammen sind Webseite und Instagram-Kanal multimodal konstruiert, also durch audiovisuelle Zeichen wie bewegtes und stehendes Bild, gesprochene Sprache sowie Musik erweitert. Die Parteien nutzen unterschiedliche Personalisierungsstrategien, um den Wahlkampf persönlicher zu gestalten. Dazu gehört auf den Webseiten zum Beispiel das Erzählen der Lebensgeschichte der Spitzenkandidat*innen Stefan Naas, Tarek Al-Wazir und Angela Dorn. Indem diese nicht nur ihren politischen Werdegang beschreiben, sondern aus der Ich-Perspektive auch von ihrem persönlichen Lebenslauf, ihrer Motivation und Verbundenheit mit dem Land Hessen berichten, stärken sie das Näheverhältnis zu den Rezipient*innen. Die potenziellen Wähler*innen werden dabei meist direkt angesprochen, wodurch ein stärkerer Bezug hergestellt werden soll (vgl. Abb. 3). Auch der Unterhaltungsaspekt spielt dabei eine Rolle (insbesondere auf Instagram). Die FDP setzt vor allem visuell auf eine ‚schrillere‘ Ansprache in FDP-Gelb und Pink sowie auf eine für Oppositionsparteien typisch provokantere Wahlkampfsprache, wenn sie zum Beispiel andere Parteien direkt angreift und deren vermeintliche Verfehlungen aufzählt. Zudem betont sie wie schon im Wahlprogramm verstärkt das Individuum und betreibt Politik ‚für dich‘ (ergo ihre Stammwählerschaft). Dahingegen gestalten die Grünen ihren Webauftritt nahezu nüchtern in gedeckten Grüntönen und setzen auf „Politik für alle“, betonen also stärker die Gemeinschaft. Auch der Instagram-Kanal der Grünen ist, einer Regierungspartei entsprechend, sprachlich verhaltener. So wird weniger kritisiert, sondern verstärkt auf bereits erreichte Erfolge verwiesen (vgl. Abb. 4). Insgesamt lässt sich feststellen, dass der Krisenbezug bei der FDP multimodal wesentlich präsenter ist, typisch für die Wahlkampfsprache einer Oppositionspartei. Sie zieht aus den konstruierten Krisen die Konsequenz, dass nur die Wahl der FDP aus der komplett defizitären aktuellen Lage retten kann. Auch die Grünen zeigen Krisen auf, obgleich weit weniger explizit, ebenfalls typisch für eine amtierende Partei. Sie betonen Krisen im Zusammenhang mit bereits geleisteten Erfolgen und weisen gleichzeitig darauf hin, dass noch Potenzial besteht – sozusagen als Legitimation für die Wiederwahl.
Bei der Plakatkommunikation erregt die FDP durch auffällige Slogans Aufmerksamkeit und nimmt dabei zugleich Bezug auf die Bundespolitik oder auf gesellschaftlich brisante Themen („Make Inflation Small Again“, „Verbieten wir uns nicht die Wirtschaft kaputt“, „Vom Gendern kommen auch nicht mehr Lehrerinnen“), um sich als die Partei auszuweisen, die die großen Probleme mit ihrem Programm lösen kann. Der Slogan „Make Inflation Small Again“ ist zugleich eine Anlehnung an den in US-amerikanischen Präsidentschaftswahlkämpfen gebrauchten und im kollektiven Bewusstsein verankerten Slogan „Make America Great Again“. Die Grünen dagegen inszenieren sich mit ihren Plakaten als bodenständig. Im Gegensatz zu früheren Plakatkampagnen im Wahlkampf werden im aktuellen Wahlkampf Interaktionssituationen mit Bürger*innen fokussiert. In der Stilistik nähern sich die Grünen somit den Plakaten von CDU und SPD an. Der Slogan in Schreibschrift lässt Dynamik assoziieren.
Wahlkampfsprache von AfD und Die Linke
Beide Parteien weisen sich im Landtagswahlkampf in Hessen 2023 als klare Oppositionsparteien aus, was in der Forschung als Lagerwahlkampf beschrieben wird und sich sprachlich v. a. durch verschiedene Formen von Polarisierungsstrategien zeigt. Polarisierungshandlungen findet man in allen Themenbereichen der beiden Parteien, wobei sich die Art und Weise der Polarisierung bei beiden deutlich unterscheidet. Das beginnt u. a. schon bei der Frage danach, was die beiden Parteien jeweils als Krise ausweisen oder als krisenhaft bestimmten.
Die Partei Die Linke identifiziert neun Krisen, die aktuell bestehen oder in der jüngeren Vergangenheit bestanden. Im weniger krisendiversen Wahlprogramm der AfD wird lediglich auf fünf verschiedene Krisen sprachlich Bezug genommen.
Der Themenbereich Geschlecht und Gender bietet den beiden Parteien Raum zur Polarisierung, indem sich AfD und Die Linke diesem öffentlich kontrovers diskutierten Thema sowohl inhaltlich als auch auf der sprachlichen Oberfläche nähern. Auf inhaltlicher Ebene positionieren sich beide Parteien bspw. zum Thema Geschlechtergerechte Sprache, indem sie diese begrüßen („Geschlechtsneutrale Sprache fördern“, WP Die Linke: 103) oder kategorisch ablehnen („Die AfD Hessen fordert die sofortige Abschaffung der sogenannten geschlechtergerechten Sprache in Wort und Schrift.“, WP AfD: 21), auf Vertreter*innen geschlechtersensiblen Sprachgebrauchs nimmt die AfD mit dem Vorwurf der Genderideologie Bezug (WP AfD: 20), wodurch in den Texten v. a. die Grünen als Feindbild konstruiert werden. Deutlich wird die Konstruktion des grünen Feindbilds auch in anderen Themenfeldern in der Plakatkommunikation, die mit Slogans wie „Auto fahren, wie wir es wollen“, „Grüne stoppen! Wir setzen Grenzen“ (Abb. 8) und „Bildung schützt vor grüner Ideologie“ operiert und Bezug auf die Bundespolitik nimmt. Argumentiert wird bei beiden Parteien mit dem gesellschaftlichen Nutzen geschlechtergerechter Sprache, der allerdings aufgrund der je unterschiedlichen Parteiposition zu unterschiedlichen Positionen in puncto Gendern bei AfD und Die Linke führt. Diese Positionen und die damit verbundene Polarisierung lassen sich nicht nur in der Argumentation, sondern konkret an der sprachlichen Oberfläche beider Wahlprogramme ablesen: Die AfD nutzt ausschließlich das Maskulinum, um damit auf Personen aller geschlechtlicher Identitäten zu verweisen. Die Linke dagegen nutzt das Gendersternchen, Beidnennungen, Verlaufsformen und neutrale Formen, um auf Personen zu verweisen. Wird die geschlechtliche Identität von Personen fokussiert, bspw. im Kontext von Benachteiligung am Arbeitsplatz, referiert die AfD in den Texten lediglich auf Männer und Frauen. Die Linke spricht dagegen von Männern, Frauen sowie Frauen*, FLINTA* und queeren Personen, ohne diese Konzepte allerdings einzuführen oder zu erklären. Als ein zu allen Themenbereichen querliegendes Thema artikulieren Die Linken das Thema Klima (so auch bei den Grünen). Wenngleich die Brisanz des Klimathemas in aller Deutlichkeit vermittelt wird, werden doch Ausdrucksweisen wie Klimakrise oder Klimakatastrophe als Stigmawörter nur sehr selten verwendet. Stattdessen werden Ausdrucksformen wie klimagerecht, klimaschonend, klimafest, klimafreundlich etc. im Kontext von als notwendig erachteten Klimaschutzmaßnahmen und im Kontext der Thematisierung von sozialer Gerechtigkeit gebraucht. Die Linke inszeniert sich dadurch als sozial gerechte Klimapartei („Hessen sozialer, ökologischer und gerechter machen“, WP: 5), was auch im Zusammenspiel von Text und Bild auf den Plakaten zur Geltung kommt (z. B. Abb. 7 „Freie Fahrt fürs Klima in Stadt & Land“ oder „ Energie darf nicht die Welt kosten“).
Die AfD zeigt im Hinblick auf den Themenbereich Klima und Klimaschutz Kontinuität zu früheren Wahlkämpfen und Äußerungen. Der Ausdruck Klimaschutz wird grundsätzlich nur in distanzierender Schreibung mit Anführungszeichen in Kombination mit dem Adjektiv sogenannt verwendet, Klimaschutz wird explizit abgelehnt (WP: 44). Grund dafür ist die Auffassung der AfD, dass es einen menschengemachten Klimawandel nicht gibt, stattdessen spricht die AfD von Klimaentwicklung und Klimaresilienz. Den anderen Parteien wird implizit Alarmismus beim Klimawandel unterstellt, gegen den sie sich explizit aussprechen (WP: 44). In diesem Zusammenhang wird die Tatsache, dass die Erderwärmung durch CO2 verursacht wird, in Zweifel gezogen, indem behauptet wird, dass diese These „von vielen Klimawissenschaftlern bestritten“ wird (WP: 44), ohne dabei aber auf entsprechende Studien zu verweisen. Während die AfD als Hauptgegner in ihren Wahlkampftexten und ‑reden die Grünen ausmachen (vgl. TV-Werbespot und s. o.), verbindet Die Linke mit der sprachlichen Krisenmarkierung eine grundsätzliche Kapitalismuskritik, wobei innerhalb des Topos der Ursache (der Krisen) der Kapitalismus als Schuldiger bestimmt wird. „Grenzenloses Profitstreben, Kriege und Klimakatastrophen: Der Kapitalismus bleibt die zentrale Ursache für viele Probleme auf unserem Planeten. Als dessen Folge jagt eine Krise die nächste.“ (WP Die Linke, S. 5) Visuell unterstützt wird diese Argumentation auf Plakaten, Flyern und auf der Webseite durch den rot gefärbten Robin-Hood-Hut, der zugleich die Kontinuität der Argumentation in den Wahlkämpfen der Linken unterstreicht. Eine weitere, für rechtspopulistische Parteien typische Strategie ist das Spiel mit der kalkulierten Ambivalenz. Dabei werden bewusst Widersprüche gesetzt, aber nicht aufgelöst. Zum einen kann die AfD durch diese Strategie Kritik an ihrem Profil zurückweisen, zum anderen können damit ganz unterschiedliche Adressat*innengruppen angesprochen werden. So sieht sich die AfD beispielsweise in der Kultur der Aufklärung und betont in diesem Zusammenhang die Gleichberechtigung von Mann und Frau sowie die freie Religionsausübung (WP: 21), während sie an anderer Stelle im Programm dem Islam das Recht auf freie Religionsausübung aber abspricht (WP: 26), was mit einer Normenkollision begründet wird. „Wie jedes andere Grundrecht kann auch die Religions- und Weltanschauungsfreiheit mit anderen Grundrechten kollidieren. Im Fall des Islam halten wir diese sogenannte ‚Normenkollision‘ in vielen Aspekten für gegeben. Die AfD Hessen sagt Nein zu Verschleierung, Kopftuch, Scharia, Minarett und Muezzinruf.“ (WP: 26) Diese hier erwähnten Strategien der beiden Parteien finden sich auch bei der Plakatgestaltung. Die AfD arbeitet darüber hinaus bei den Plakaten mit der Assoziationskraft und dem Interpretationsspielraum von Aussagen („Wir setzen Grenzen“, Abb. 9), mit vagen Drohungen („Wir vergessen nicht“) oder mit der Selbstpositionierung als Opfer („Weil wir für Euch sind, sind sie gegen uns!“) während sich Die Linke mit der Propagierung einer Millionärssteuer („Wir haben etwas gegen Armut“) in ihrer Kapitalismuskritik treu bleibt.
„Wir beschaffen, was fehlt“!? – Zur Konstruktion von Mangel in den Wahlprogrammen
Mangel ist „das Fehlen oder Nicht-Vorhandensein einer (dringend) benötigten Sache oder Person“ (https://www.dwds.de/wb/Mangel#1). Dass das eng mit Krisen zusammenhängt, zeigen Begriffe wie Energiemangel, Wassermangel oder Fachkräftemangel, die vielleicht nicht zwangsläufig für alle konkret erfahrbar sind, aber – wie die Krise selbst – immer auch diskursiv hergestellt werden. Dies zeigt sich auch im Landtagswahlkampf in Hessen bei den im hessischen Landtag vertretenen und zur Wiederwahl angetretenen Parteien in den Wahlprogrammen (z. B. Fachkräftemangel, Wohnungsmangel, Armut etc.). Welche Strategien werden anhand der sprachlichen Konstruktion von Mangel im Wahlkampf von den Parteien verwirklicht? Mangel wird nicht nur explizit mit dem Ausdruck Mangel artikuliert, deswegen wurde in den Programmen auch nach Lexemen mit dem Stamm fehl*, defizit*, knapp*, lücke*, ausfall*, einbuße*, gering*, wenig*, kein*, not* und armut* recherchiert. Im Wahlkampf dominieren persuasive Wahlkampfstrategien, zu ihnen zählen bspw. die Profilierung, der positive Bezug auf das Erreichte und die daraus abgeleiteten zukünftigen Handlungen (Prolongierung), die Polarisierung und die Entlarvung (vgl. Efing 2005: 228 f.). Den Parteien geht es vor allem darum, mit Hilfe sprachlicher Mittel die Meinungen und Einstellungen zugunsten der eigenen Partei zu prägen und Vertrauen in das Gesagte und in die politischen Akteur*innen zu schaffen (vgl. Girnth 2016; Klein 2009, 2011). Es wird also davon ausgegangen, dass Mangel im Wahlkampf strategisch kommuniziert wird, um entweder im Sinne der Profilierung oder Prolongierung eigene Stärken und Lösungen hervorzuheben oder Verantwortlichkeiten zur Entlarvung von Defiziten der aktuellen Politik aufzuzeigen. Es kann aber auch dazu dienen, die eigenen Ziele dem Versagen der anderen Parteien polarisierend gegenüberzustellen. Diese Strategien werden jedoch sehr unterschiedlich realisiert, wie die Beispiele aus den untersuchten Programmen zeigen. Bei der Profilierung zeigen sich vor allem positiv wertende Begriffe (Fahnen‑, Hochwertwörter) einhergehend mit dem Muster „Wir [Selbstreferenz] wollen [Modalverb] X schaffen [positive Verbdeontik], so dass wir [Selbstreferenz] den Mangel (durch Y) beheben [negative Verbdeontik]“. Positive Verbdeontik (sich einsetzen für, etwas fordern) und negative Verbdeontik (verhindern, abschaffen) implizieren Zustände, die entweder herbeigeführt werden oder verschwinden sollen (vgl. Schröter 2013; Hermanns 1989). Hier geht es um konkrete Lösungsstrategien, wobei die Verantwortung für den Mangel nicht benannt wird bzw. der Mangel somit implizit als gegeben konstatiert wird. Diese Strategie zeigt sich vor allem bei der SPD:
Die SPD möchte die Arbeit und den Wohlstand von morgen sichern. (…) Dem Fachkräftemangel werden wir mit Anreizen entgegenwirken (…). (WP SPD: 6)
Bei der CDU und bei den Grünen sind ebensolche Profilierungsmuster zu finden. Hier kommt aber noch die Prolongierungsstrategie hinzu, bei der sich der Nachweis von Kontinuität und Zukunftssicherheit der Regierungsparteien über „weiter“-Konstruktionen sowie durch den Bezug zur Regierung und zu Erreichtem gefunden werden kann, wie bspw. bei den Grünen:
Dem Fachkräftemangel wollen wir konsequent begegnen. Wir werden alle Aktivitäten der Landesregierung zu diesem Thema in der Staatskanzlei bündeln und gemeinsam mit Gewerkschaften und Unternehmensverbänden diese Maßnahmen weiter ausbauen. (WP Die Grünen: 9)
Bei der Polarisierungsstrategie werden zwei Strategien bei der Thematisierung von Mangel miteinander kombiniert. Dies manifestiert sich anhand der schon gezeigten Profilierungsmuster gepaart mit der Gegenüberstellung von negativ und positiv wertenden Wörtern, oder auch von wir vs. die anderen. Es wird auf aktuelle Defizite oder Versäumnisse Bezug genommen, aber auch Betroffene werden benannt, wie bei der FDP zu sehen ist:
Oft fehlt es vor Ort an Know-how und Personal. Die Landesregierung lässt die Städte und Kommunen hier im Regen stehen. Wir werden dafür sorgen, dass das Landesamt für Gesundheit und Pflege ihnen künftig Hilfestellung leistet (…), die auch wirklich bei den Menschen ankommen. (WP FDP: 73)
Bei der Strategie der Entlarvung wird die Legitimation der gegnerischen Parteien infrage gestellt und/oder Missstände und Verantwortlichkeiten aufgedeckt. Dies passiert über vorwiegend negativ wertende Wörter, Gradpartikeln zur Ausdrucksverstärkung (bspw. gravierend, eklatant), die häufige Nennung von Verantwortlichen, aber auch von Betroffenen und Folgen. Eine Selbstreferenz oder Lösungen sind hier nicht zu erwarten, wie das Beispiel der AfD zeigt:
Die hessische Bildungspolitik der vergangenen Jahre und Jahrzehnte ist durch gravierende Fehlentwicklungen gekennzeichnet: eklatanter Lehrermangel und eine daraus resultierende mangelhafte Unterrichtsversorgung, Lern- und Leistungsrückstände auch aufgrund der politisch verordneten unverhältnismäßigen Corona-Maßnahmen, sowie einer unregulierten Migrationspolitik, (…). Diese Entwicklungen sind die Folge jahrzehntelanger, unterdurchschnittlicher Bildungsinvestitionen des Landes Hessen. (WP AfD: 15)
Das Thema Mangel wird also durchaus strategisch in den Wahlprogrammen platziert. Dies zeigt sich bspw. darin, dass der Begriff bei den Regierungsparteien am seltensten, in denen der Opposition am häufigsten vorkommt. Innerhalb der Profilierungs- und Prolongierungsstrategie wird Mangel als behebbare Herausforderung konstatiert – also ganz im Sinne einer Lösungsorientierung oder sogar Rettungsverheißung – Ursachen des Mangels werden hier nicht beschrieben. Beim Polarisieren wird Mangel als ein fremdverschuldeter Schaden dargestellt, für den die Eigengruppe die Lösung präsentiert. Damit grenzt man sich klar von „der anderen Seite“ ab. Durch eine zum Teil ausführliche Beschreibung der Missstände findet zudem eine Emotionalisierung im Allgemeinen und eine Moralisierung der eigenen Seite statt. Dies passiert auch in der Strategie der Gegnerabwertung. An diesen Stellen findet keine Selbstreferenz statt, weshalb der Mangel ausschließlich als fremdverschuldet dargestellt und z. T. ausführlich beschrieben wird. Hier werden „die anderen“ als Sündenböcke konstatiert und die Gesellschaft oder das Land als Opfer dargestellt. Es wird deutlich, dass die Thematisierung von Mangel in Wahlprogrammen vor allem in Zeiten von Mehrfachkrisen ein probates Mittel zur Persuasion und Gruppenkonstruktion ist, um bspw. sich selbst als Heilsbringer*in oder die Gesellschaft als Opfer zu positionieren.
Ungesagtes und Mitgemeintes
Eine spezielle Form persuasiver Strategie besteht darin, Meinungen und Einstellungen mit Hilfe des Ungesagten und „nur“ Mitgemeinten zu transportieren und zu beeinflussen. Die Gründe hierfür können vielfältig sein: Kandidat*innen bzw. Parteien halten sich strategische Optionen offen, eindeutige Festlegungen werden vermieden und Rückzugsmöglichkeiten auf das nur Gesagte, aber vermeintlich nicht Gemeinte, bleiben erhalten. Zudem lässt Vagheit in der Ausdrucksweise mehr Spielraum für Interpretationsmöglichkeiten seitens der Wähler*innen, die die nur mitgemeinten „Leerstellen“ auf der Grundlage ihrer eigenen politischen Einstellungen füllen können. Es gibt verschiedene Möglichkeiten etwas mit zu meinen, es also nicht explizit zu sagen. Unterschieden werden können hier Implikaturen, Präsuppositionen und pragmatische Anreicherungen bzw. referentielle Unterbestimmtheit, die sowohl einzeln als auch im Zusammenspiel für persuasive Zwecke genutzt werden können. Bei einer Implikatur wird etwas gesagt und etwas darüber Hinausgehendes, Zusätzliches gemeint. Die Bedeutung des Gemeinten muss von den Rezipient*innen durch einen Schlussprozess ermittelt werden. Ein typisches Beispiel für eine Implikatur ist das Ausweichen des Grünen-Politikers Tarek Al-Wazir in nachfolgendem Interview mit der „Frankfurter Rundschau“:
Frankfurter Rundschau: „Gegner:innen des Flughafen- oder Autobahnausbaus werfen den Grünen Verrat vor. Wie wollen Sie diese Klientel zurückgewinnen?“ Tarek Al-Wazir: „Alle Umfragen zeigen, dass eine große Mehrheit unseren Kurs in der Verkehrspolitik richtig findet. Und dass sich unsere Ergebnisse sehen lassen können. Das Deutschland-Ticket wurde in Hessen erfunden. (…)“ (Interview in der Frankfurter Rundschau vom 12.9.2023)
Al-Wazir beantwortet die Frage nicht, sondern weicht aus, indem er auf „eine große Mehrheit“ verweist, die seine Verkehrspolitik für richtig halte. Er implikatiert somit, dass die Gegner*innen des Ausbaus in der Minderheit sind und er Politik für die Mehrheit macht. Ob und wie er die Gegner*innen des Ausbaus zurückgewinnen will, lässt er offen. Unter Präsuppositionen versteht man Voraussetzungen, die von Sprecher*innen in einer Kommunikationssituation stillschweigend angenommen werden und ohne die Aussagen nicht als sinnvoll erachtet werden können. Für die politische Kommunikation sind sogenannte Existenzpräsuppositionen von besonderer Bedeutung, bei denen die Existenz von entsprechenden Referenzobjekten als gegeben vorausgesetzt wird. Die persuasive Kraft von Existenzpräsuppositionen darf nicht unterschätzt werden, was am Beispiel von Herausforderungen, einer auch im hessischen Wahlkampf beliebten Interaktionsvokabel, die vor allem die Grünen, SPD und CDU an prominenter Stelle hervorheben, veranschaulicht werden kann:
[W]ir leben in einer Zeit mit vielfältigen Herausforderungen. (…) Gerade in Zeiten wie diesen kommt es auf die richtigen politischen Entscheidungen an. Wir können uns die Krisen und Herausforderungen nicht aussuchen. Wir haben es aber in der Hand, wie wir damit umgehen. (Regierungsprogramm Die Grünen: 5) Der Krieg stellt uns vor gewaltige Herausforderungen, ohne dass die alten Herausforderungen kleiner geworden sind (…). Und ich möchte eine aktiv gestaltende Politik, die dafür sorgt, dass wir die Herausforderungen unserer Zeit gemeinsam, solidarisch und sozial gerecht bewältigen. (https://www.nancy-faeser.de/was-mir-wichtig-ist/) Jede Zeit hat ihre Herausforderungen. Aber noch nie waren es so viele auf einmal. (…) Wir wollen die vor uns liegenden Herausforderungen so bewältigen, dass niemand zurückbleibt (…). (www.boris-rhein.de [29.9.2023]).
Präsupponiert wird bei Grünen, SPD und CDU die Existenz von Herausforderungen als ‚schwierige politische Aufgaben‘, die entschiedenes politisches Handeln legitimieren. Zugleich liegt die normative Präsupposition vor, dass Politiker*innen sich Herausforderungen stellen müssen, um diese im Interesse der Bürger*innen des Landes zu bewältigen. Neben Existenzpräsuppositionen spielen auch sogenannte lexikalische Präsuppositionen eine Rolle. So benutzt beispielsweise die AfD die Wörter wieder, wiederherstellen und Wiederherstellung dazu, die Existenz in der Vergangenheit existierender und im Sinne der AfD positiver Werte als gegeben zu sehen, um deren Wiederherstellung in der Gegenwart als politische Aufgabe zu betonen: So heißt es auf einem Wahlplakat der AfD „Wir bringen Hessen wieder auf Kurs“ (Präsupposition: Hessen ist vom Kurs abgekommen) und im Wahlprogramm findet sich beispielsweise folgende Passage:
Der Schutz der traditionellen Familie als Keimzelle der Gesellschaft muss wieder in das Zentrum der politischen Aufmerksamkeit gerückt werden. (WP AfD: 12)
Pragmatische Anreicherung und referentielle Unterbestimmtheit liegen immer dann vor, wenn das Gesagte, um vollständig erfasst zu werden, um etwas ergänzt werden muss, sei es um etwas Spezifischeres oder Unspezifischeres. Das Gesagte ist dabei oft semantisch vage, in Bezug auf die Referenz flexibel und kann einen weiten Interpretationsspielraum eröffnen. Als ein für politisches Sprachhandeln typisches Beispiel kann hier die folgende Aussage von Boris Rhein angeführt werden (das zu Ergänzende ist jeweils in eckige Klammern eingefügt):
Liebe Hessinnen und Hessen, Hessen ist ein starkes [in Bezug auf die Wirtschaft?], wunderschönes [in Bezug auf seine Landschaft?] und vielfältiges [in Bezug auf seine Menschen/ Natur?] Land. (…) Jede Zeit hat ihre Herausforderungen [Klimakrise]. Aber noch nie [in der Geschichte der Bundesrepublik] waren es so viele [wie viele?] auf einmal. (www.Boris-Rhein.de).
Anhand des Wahlplakates der AfD (Abb. 9) lassen sich noch einmal anschaulich die verschiedenen Möglichkeiten, Ungesagtes und Mitgemeintes zu realisieren, wie gebündelt demonstrieren. Das Wahlplakat ist zugleich ein instruktives Beispiel dafür, wie die Strategie der AfD, das Gesagte zu minimieren und zugleich den Interpretationsspielraum des Mitgemeinten zu erhöhen zum Ziel hat, für eine größere Gruppe von Wähler*innen wählbarer zu werden.
Der Slogan Hessen kann’s ist – wie im Übrigen sehr viele Wahlkampfslogans – referentiell unterbestimmt. Worin das es können besteht, ist semantisch vage. Das Referenzpotential ist hoch und die Referenz flexibel. Wir setzen Grenzen!, dem durch das Ausrufezeichen noch einmal Nachdruck verliehen wird, implikatiert, dass andere Parteien dies nicht tun. Die Ambiguität von Grenzen setzen (‚jemandem Grenzen setzen‘, Grenzen im Sinne von ‚Landesgrenzen‘) wird hier durch das Bild des Schrankenzauns aufgelöst. Von besonderer Brisanz erweisen sich die pragmatischen Anreicherungen. Welcher Art sind die Grenzen, handelt es sich um EU-Außengrenzen oder Binnengrenzen? Wozu dienen die Grenzen? Und vor allem: Vor wem und vor was sollen die Grenzen schützen? Insbesondere letzteres lässt sich vor dem Hintergrund des aktuellen politischen Diskurses zweifelsohne mit Asylsuchende bzw. Migration ergänzen, es kann aber, betrachtet man Äußerungen von AfD-Politiker*innen auch mit Invasion und all seinen Implikationen (‚feindlicher, militärischer Einfall, illegal; etwas, was bekämpft und mit Gewalt zurückgedrängt werden muss‘) ergänzt werden. In einem Bericht der Frankfurter Rundschau vom 12.9.2023 über den Wahlkampfauftakt der AfD in Hessen heißt es dann auch entsprechend: „Immer wieder schürten sie Ressentiments gegen Asylsuchende und Angst. Schon das Wort ‚Flüchtling‘ sei eine Unverschämtheit, so Weidel, es handele sich in erster Linie um ‚Einwanderer in die Sozialsysteme‘. Chrupalla sprach von einer gefährlichen ‚Invasion‘.“ Von einer Invasion bzw. Invasoren spricht auch der AfD Bundestagsabgeordnete Bernd Baumann im Rahmen der Bundestagsdebatte vom 22.9.2023, die die Beratung des Antrags der CDU/CSU Fraktion: Deutschland-Pakt in der Migrationspolitik – Irreguläre Migration stoppen, zum Gegenstand hatte:
Ein italienischer Bürgermeister sagt, was die Übrigen denken: Das ist eine Invasion. Das sind Invasoren aus Afrika und aus dem Orient. - Recht hat er; denn die, die da kommen, sind weitenteils keine Schutzsuchenden. Das sind Männer, vor denen wir Schutz brauchen. (Bernd Baumann: Bundestagsrede vom 22.9.2023)
Damit dürfte deutlich geworden sein, dass das Ungesagte bzw. Mitgemeinte immer Teil der Interpretation sein muss und Äußerungen im Wahlkampf einer Kontextualisierung bedürfen, die erst ihre intendierte Bedeutung, das Ungesagte und Mitgemeinte, zum Vorschein bringt.
Abbildungen:
Abb. 1: https://www.cdu-kassel-land.de/aktuelles/landtagswahl2/
Abb. 2: https://www.instagram.com/spdhessen/
Abb. 3: https://www.instagram.com/p/CxVrm8nIV2s/
Abb. 4: https://www.instagram.com/p/Cxaf3aLqFYG/
Abb. 5: https://fdp-hessen.de/kampagnenlinie/
Abb. 6: https://www.gruene-hessen.de/wp-content/uploads/2023/06/LTW23-Motiv5-1.jpg
Abb. 7: https://www.die-linke-hessen.de/images/2023/06/25/klima.jpg
Abb. 8: https://afd-hessen.de/
Abb. 9: https://afd-hessen.de/
Wahlprogramme:
https://rtk.afd-hessen.org/wp-content/uploads/2023/06/AfD-Hessen-Wahlprogramm-zur-LTW23.pdf
https://www.die-linke-hessen.de/images/Downloads/2023-aktuell/LTW/wahlprogramm-ltw2023.pdf
https://www.spd-hessen.de/wp-content/uploads/sites/269/2023/07/SPD_Hessen_Wahlprogramm_2023_V3.pdf
https://fdp-hessen.de/wp-content/uploads/2023/07/FDP_HE23_LTW-Programm_2023.pdf
https://www.cduhessen.de/data/documents/2023/07/05/2831-64a58181dffad.pdf
Literatur:
Efing, Christian (2005): Rhetorik in der Demokratie. Argumentation und Persuasion in politischer ‚Wahl-Werbung‘. In: Kilian, Jörg (Hg.): Sprache und Politik. Deutsch im demokratischen Staat. Mannheim [u.a.]: Dudenverlag, 222–240.
Girnth, Heiko (2016): Wahlkampf in Zeiten politischer Umbrüche. Persuasive Strategien von CDU und SPD im rheinland-pfälzischen Landtagswahlkampf. In: aptum. Zeitschrift für Sprachkritik und Sprachkultur 12 (3), 225–235.
Hermanns, Fritz (1989): Deontische Tautologien. Ein linguistischer Beitrag zur Interpretation des Godesberger Programms (1959) der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. In: Klein, Josef (Hg.): Politische Semantik. Bedeutungsanalytische und sprachkritische Beiträge zur politischen Sprachverwendung. Opladen: Westdeutscher Verlag, 69–149.
Klein, Josef (2009): Rhetorisch-stilistische Eigenschaften der Sprache der Politik. In: Fix, Ulla / Andreas Gardt / Joachim Knape (Hg.): Rhetorik und Stilistik – Rhetoric and Stylistics. Ein internationales Handbuch historischer und systematischer Forschung. 2. Halbband. Berlin/New York: De Gruyter, 2112–2131.
Klein, Josef (2011): Diskurse, Kampagnen, Verfahren. Politische Texte und Textsorten in Funktion. In: Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 3, 289–298.
Römer, David (2017): Wirtschaftskrisen. Eine linguistische Diskursgeschichte. Berlin/Boston: De Gruyter.
Schröter, Melani (2013): Was macht eine Protest- bzw. Oppositionspartei (aus)? Das Wahlprogramm der Piratenpartei aus vergleichender und korpusanalytischer Sicht. In: aptum. Zeitschrift für Sprachkritik und Sprachkultur 9 (3) 261–274.
Diesen Beitrag zitieren als:
Girnth, Heiko, Haid, Janett, Kern, Lesley-Ann, Meier, Stefan, Michel, Sascha, Poloschek, Hanna, Riess, Christine, Römer, David, Spieß, Constanze & Völker, Hanna. 2023. Sprachgebrauch im Landtagswahlkampf in Hessen — Wie Politiker*innen in Krisenzeiten um Zustimmung werben. In: Sprachspuren: Berichte aus dem Deutschen Sprachatlas 3(11). https://doi.org/10.57712/2023-11