Dieser Beitrag handelt von einem Thema, das auf den ersten Blick recht wenig mit der Arbeit eines (Geistes-)Wissenschaftlers/einer (Geistes-)Wissenschaftlerin zu tun hat: der Schatzsuche. Und doch ist es die Suche nach Unbekanntem, Verschollenem, die so oft am Anfang eines Forschungsprozesses steht. Ich stelle hier die Geschichte meiner Schatzsuche (mit Happy End!) vor.
Selten sind Schätze für Uneingeweihte offensichtlich. Ihr Wert zeigt sich erst unter der Berücksichtigung vieler Faktoren, daher gehe ich hier nicht nur auf den Pfad meiner Schatzsuche ein, sondern möchte auch erläutern, warum mein Schatz überhaupt ein Schatz ist. Ein Forschungsthema ist selten isoliert, sondern existiert als ein kleiner Knoten in einem gewaltigen Netz. Ohne allzu sehr ins Detail zu gehen, beleuchte ich einen Teil dieses Netzes und verdeutliche somit, was meinen Schatz zu einem solchen macht. Ich möchte hier auch eine Ebene ansprechen, die untrennbar verbunden ist mit meiner Arbeit. Als Forschende bin ich dem wissenschaftlich-objektiven Duktus verpflichtet — das Thema, nämlich die Mundarten der Wolgadeutschen, ist aber eng verbunden mit dem persönlichen Schicksal seiner Sprecher und Sprecherinnen, gekennzeichnet von Schicksalsschlägen und oft schwer erträglich. Meine Schatzsuche war auch eine Reise, die mich emotional hoch berührt hat.
WissenschaftlerInnen sind im Nebenberuf SchatzjägerInnen. Forschen heißt suchen – die Suche nach Erkenntnis ist der Kern eines wissenschaftlichen Arbeitslebens. Im Falle des jungen Gelehrten, Georg Wenkers (1852–1911), ergab sich die Frage nach der Beschaffenheit der Dialekte seiner Heimat, dem Rheinland: „Daß ich nämlich schon seit langer Zeit eine große Liebhaberei für die platte Sprache in unserem Rheinlande gehabt hätte …“ (Wenker 1877: 4) was ihn dazu führte, eine dialektale Erhebung durchzuführen, die er dann immer weiter ausweitete und deren Auswertung in einem „Schatz“ resultierte, dem Sprachatlas des Deutschen Reichs (Wenker 1888–1923):
… dieser Schatz, das Resultat langjähriger mühsamer Arbeit, …
(Wrede 1895: 52)
In einem Sommersemester in der zweiten Hälfte der 2000er nahm ich an einem Blockseminar teil, das einen sehr praktischen Bezug hatte. Unser Dozent lehrte uns das Transliterieren anhand von kleinen blauen Heftchen – handschriftliche Kommentare zum Sprachatlas des Deutschen Reichs aus der Feder Wenkers, datierend von ca. 1889–1911 (Wenker 2013/2014). Während das Material selbst doch für eine Studentin wie mich recht trocken war und ich noch nicht wirklich verstand, was ich da überhaupt bearbeitete, so war ich trotzdem wie gefangen von der Geschichte, die dahinter steckte. Die Materialien waren nämlich bis vor ganz kurzer Zeit vor diesem Seminar völlig unbekannt gewesen – sie lagen nicht im Archiv des DSA, sondern in der Staatsbibliothek zu Berlin, von der eine bekannte Koryphäe einmal bemerkt hatte, dort gäbe es weiter nichts dazu von Belang. Allerdings gab es einen winzigen Hinweis darauf, dass ein solches Material irgendwo existieren musste, versteckt in einem Nebensatz, und das hatte unseren Dozenten stutzig gemacht. Er hatte die Bibliothek kontaktiert, nicht locker gelassen und nach einiger Zeit die Nachricht bekommen: Ja, hier liegt etwas von Interesse für Sie, kommen Sie doch vorbei und schauen es sich an. Einen Heureka-Moment, viel Herzklopfen und einen bewilligten Forschungsantrag später war das Material Fokus eines Projekts, dessen Publikation heute zum Kanon Wenkers zählt. Mein Dozent war übrigens der heutige Direktor des DSA, Prof. Dr. Alfred Lameli.
Während ich heute nicht mehr weiß, was genau ich in dem Seminar transliteriert habe, blieb mir doch Prof. Lamelis Schilderung seiner Schatzsuche immer im Gedächtnis und ich wusste: Ich wollte so etwas auch erreichen. Ich wollte verschollene Schätze aufspüren. Ich wollte in eine Bibliothek gehen und das Manuskript der Manuskripte finden, das papierne Äquivalent zur Bundeslade, zum Bernsteinzimmer, zur verlorenen Stadt Paititi. Womit ich nicht gerechnet hatte, war, dass meine Jagd nach den wolgadeutschen Wenkersätzen 15 Jahre später zwar erfolgreich, aber ganz im Sinne des digitalen Zeitalters weit weniger gegenständlich sein würde.
Auf der Suche
Ich hatte nach dem Magister eine Auszeit von der Germanistik genommen und in südamerikanischen indigenen Sprachen promoviert (Müller 2013). Ich konnte direkt danach eine Anstellung am DSA ergattern und fand mich plötzlich umringt von Themen und Projekten, die so gar nichts mit Südamerika oder gar dem Rest der großen weiten Welt zu tun hatten, wie ich auf den ersten Blick glaubte. Zum Glück stellte sich aber heraus, dass die deutsche Sprache sich doch fast überall auf dem Globus tummelte, und ich begann meine Forschung zum Niederdeutschen in Westpreußen und dem Russischen Reich/der Sowjetunion, wie es die Mennoniten dort gesprochen hatten. Zuvor war ich auf einen Bestand im Archiv des DSA aufmerksam gemacht worden, der bisher relativ vernachlässigt worden war, und zwar die Erhebung der Wenkersätze von Walther Mitzka (1888–1976) 1930 unter mennonitischen Flüchtlingen aus der Sowjetunion (Mitzka 1930, Fleischer 2017: 107–109). Dies würde, zusammen mit mennonitischen Wenkerbögen aus Westpreußen, das Korpus für mein Projekt zum Sprachwandel im Mennonitischen, Plautdietsch genannt, im Osten bilden. Ich wusste aber, dass es noch weitere Erhebungen zum Russlanddeutschen von der Seite sowjetischer ForscherInnen gab – z.B. die Wenkerbögen von Schirmunski (1891–1971) (vergl. Fleischer & Pusejkina 2017), aber besonders interessant für mich die Erhebungen Georg Dinges’ (1891–1932) und MitarbeiterInnen auf wolgadeutschem Gebiet. Erstere liegen in Sankt Petersburg in der Russischen Akademie der Wissenschaften und sind, besonders im heutigen politischen Klima, unantastbar; letztere galten als verschollen oder vernichtet:
Während Dinges’ Primärmaterial, die Fragebögen mit den Übersetzungen der Wenkersätze, wohl zerstört wurde …
(Fleischer 2017: 89, siehe auch Smirnitskaja 2000)
Schirmunski war also eine Sackgasse. Zu Dinges’ Erhebungen gab es immerhin den Wolgadeutschen Sprachatlas (WDSA), der auf den Wenkersätzen basierte, aber der Verbleib der Fragebögen mit den Wenkersätzen selbst war unklar. Es gab mehrere Hinweise, die darauf schließen ließen, dass die Fragebögen im Laufe der Zeit verloren gegangen waren, z.B. „Da die Originalfragebögen nicht mehr vorlagen …“ (Berend 1997: 12 bezüglich des WDSA). Andererseits gab es aber auch keine Aussage dazu, dass sie nicht mehr existierten. Dieser Fakt und, wie bei Prof. Lameli, eine kleine Nebeninformation, waren für mich ausschlaggebend um genauer nachzuforschen. Bevor ich aber meine Suche darstelle, skizziere ich kurz die Forschungsgeschichte zum Wolgadeutschen, um zu verdeutlichen, warum mein persönlicher Sprachschatz, die wolgadeutschen Wenkersätze, eine große Bedeutung trägt.
Wolgadeutsch
Die Hauptfigur der Forschung zum Wolgadeutschen ist Georg Dinges, ein Sprachwissenschaftler wolgadeutscher Herkunft, der zwischen ca. 1920 und 1930 durch viel Eigeninitiative einen wahren Materialschatz an Daten zur wolgadeutschen Sprache zusammengetragen hatte, selber jedoch nicht mehr dazu kam, seine großangelegten Projekte zu einem wolgadeutschen Wörterbuch und einem Sprachatlas à la Wenker zu veröffentlichen. Dinges war Professor an der Universität in Saratow, Direktor des 1925 gegründeten Zentralmuseums in Pokrowsk und ebenfalls Leiter des Zentralbüros für die „Erforschung der deutschen Dialekte des Wolgagebiets“ in besagtem Museum (Jedig & Berend 2014: 155–156). Um sich herum versammelte er ein Team aus Begeisterten, das nicht nur seine Frau, sondern auch KollegInnen und SchülerInnen beinhaltete, und das unzählige Stunden an Materialerhebung und ‑bearbeitung saß. Die Arbeit dieser ForscherInnen schlägt sich nieder in einem einzigen Werk, dem Wolgadeutschen Sprachatlas, der auch erst 60 Jahre später veröffentlicht werden konnte.
Dinges selbst konnte nur zwei wissenschaftliche Artikel publizieren (Dinges 1923, 1925), bevor er 1930 wegen Spionage zugunsten Deutschlands verhaftet und nach 2 Jahren Haft in Moskau nach Sibirien deportiert wurde (Berend & Jedig 1991: 30–37). Die Chance, seine Forschungen von dort aus fortzusetzen, bekam er nicht mehr: „Er steckte sich mit Unterleibstyphus an und erlag der Krankheit schon nach drei Tagen im Juli 1932. Seine Habseligkeiten, darunter auch seine Monographie über die wolgadeutschen Mundarten und seine Kartei, wurden wegen Infektionsgefahr verbrannt.“ (Berend & Jedig 1991: 37). Die Fragebögen hatte er wahrscheinlich nicht mitgenommen und ich vermutete sie nach wie vor entweder in Dinges’ privatem Nachlass oder im Archiv des Museums. Zu ersterem findet sich ein Hinweis: „Dieses [Dinges’] private Archiv – zum Teil Kopien des im Museum [= Zentralmuseum der Republik in Pokrowsk] befindlichen Stoffes – und seine reichhaltige Bibliothek sind leider in den späteren Jahren verlorengegangen“ (Berend & Jedig 1991: 36).
Ein ähnliches Schicksal schien die Materialien von Dinges’ Nachfolger, Andreas Dulson (1900–1973), zu betreffen. Dulson hatte bis zu seiner eigenen Deportation 1941 tapfer versucht, die Arbeit der Zentralstelle aufrechtzuerhalten und dem Archiv vor seiner Abreise dann „alle Materialien über die wolgadeutschen Mundarten, die er bei sich zu Hause aufbewahrte, und die zum Teil auch den von anderen Forschern eingesammelten Stoff enthielten“ (Berend & Jedig 1991: 98) übergeben (siehe auch Berend 1993: 583). „Außerdem hat A. Dulson viel von dem in früheren Jahren eingesammelten Stoff mit nach Sibirien genommen […] Niemand weiß aber heute, was diese Materialsammlung enthalten hat und wohin sie nach seinem Tod gekommen ist.“ (Berend & Jedig 1991: 100). Damit schienen Dinges’ und Dulsons private Sammlungen verloren bzw. außerhalb meiner Reichweite, und ich konzentrierte mich auf das Archiv des Museums bzw. auf das Zentralarchiv der Wolgadeutschen ASSR, wie es von 1924 bis 1941 hieß. Heute ist es eine unabhängige Institution und heißt Staatliches Historisches Archiv der Wolgadeutschen, bisher und im weiteren Verlauf „Archiv“ genannt.
Das Archiv
Zu Beginn bestand das Archiv aus zwei Räumen im Gebäude des Zentralen Exekutivkomitees der ASSR. Bis zur Eröffnung des heutigen Archivbaus 2008 zog es mehrmals um. Während durch persönliches Engagement vieler ArchivmitarbeiterInnen ununterbrochen weiter gesammelt wurde, kam es doch zu Verlusten an Material durch schlechte Lagerbedingungen (Feuer, Wasserschäden), Umzüge und auch durch mutwillige Zerstörung (Angaben zur Geschichte des Archivs sind dessen Website entnommen: http://engels-archive.ru/). Nicht zu vergessen der Tatsache, dass ungenaue Dokumentation ebenfalls ein Grund von „Verlust“ sein kann – das Material ist vorhanden, aber undokumentiert und somit unsichtbar. Eine gute Nachricht war also, dass es das Archiv noch gab, aber eine noch bessere, dass bereits jemand vor Ort gewesen und nach Dinges’ und Dulsons Nachlässen gesucht hatte: Nina Berend, Schülerin des Sprachwissenschaftlers Hugo Jedig, der seinerseits ein Schüler Dulsons während dessen Zeit in Sibirien gewesen war, und somit eine Art Wissenschafts-Urenkelin Dinges’. Berend hatte 1988 das Archiv besucht und war fündig geworden: „Die zurück gelassenen dialektologischen Materialien befanden sich im geschlossenen Archiv und waren der Öffentlichkeit nicht zugänglich. Erst mit der politischen Auflockerung der letzten Jahre ist es möglich geworden, den dialektologischen Nachlass der Zentralstelle zur Erforschung der wolgadeutschen Mundarten einzusehen und mit der Aufarbeitung der Materialien zu beginnen.“ (Berend 1993: 583). Hier endlich fand ich einen Hinweis auf „Fragebögen“:
Ein Teil dieser Fragebögen wird heute im Engelser Archiv aufbewahrt.
(Berend 1993: 593 Fußnote 8)
Berend bezieht sich hier auf Wenkerbögen, die August Lonsinger (1881–1953) gesammelt und später Dinges übergeben hatte. Lonsinger war ein wolgadeutscher Lehrer, der 1913 in Marburg Bekanntschaft mit Ferdinand Wrede (1863–1934), Wenkers Nachfolger, gemacht und die Idee mit den Wenkersätzen in seiner Heimat gleich umgesetzt hatte (Dinges 1925: 299, vergl. Fleischer 2017a: 87). Angeblich übergab er Dinges dann 1922 78 Fragebögen aus seiner Erhebung zwischen 1913 und 1914 (Berend 1997: 7). Wenn diese Fragebögen also noch zumindest zum Teil im Archiv waren, warum nicht auch die anderen Fragebögen von Dinges? Diese Fußnote machte mir Hoffnung. Berend entdeckte im Archiv weiterhin Sprachkarten, die noch von Dinges’ und MitarbeiterInnen selbst gezeichnet worden waren und die sie zusammen mit Rudolph Post im WDSA veröffentlichte – eine späte Würdigung des monumentalen Werkes der wolgadeutschen ForscherInnen. Meine Hoffnung war nun, dass neben den Karten auch die Fragebögen gefunden worden waren. In einer Urkunde aus dem Archiv „über den Befund der Aufnahme des Vermögensbestandes der Zentralstelle für wolgadeutsche Mundartenforschung zwecks Übergabe“ (Berend & Jedig 1991: 34) werden tatsächlich unter „Beantwortete Fragebogen“ Wenkersätze genannt! Mein Herz begann zu klopfen und ich hatte einen ersten Beweis, dass sich an irgendeinem Zeitpunkt in der Vergangenheit Fragebögen im Archiv befunden haben mussten. Aber bezogen sich diese nur auf die von Lonsinger gesammelten? Berend selbst berichtet von dem Ergebnis ihrer Suche vor Ort:
„Die Karten des Wolgadeutschen Sprachatlas werden heute in der Engelser Filiale des Saratower Gebietsarchivs aufbewahrt. … Die anderen Materialien zum Wolgadeutschen Sprachatlas, darunter auch die großangelegte Monographie von G. Dinges „Die wolgadeutschen Mundarten“ sind heute nicht mehr aufzufinden“ (Berend & Jedig 1991: 71).
„Zu nennen ist vor allem das Fehlen von weiteren Unterlagen zum Sprachatlas: außer den Karten selbst sind keine Materialien gefunden worden …“ (Berend 1993: 592).
Das klang nicht sehr erfolgversprechend. Bisher hatte niemand die Existenz der Dinges-Wenkerfragebögen im Archiv heutzutage verneint, aber eben auch nicht bestätigt. Alle Aussagen, die ich dazu gefunden hatte, bezogen sich auf „Materialien“ und konnten oder konnten sich nicht auf die Bögen beziehen – ich brauchte eine verlässliche Aussage, egal in welcher Richtung. Bis hierhin hatte sich meine Suche bereits, bedingt durch nebensächliche Dinge wie Arbeit, Lehre und Familie, über mehrere Monate hingezogen. Ich wusste, jetzt musste ich mich entscheiden – weiter machen und ggf. eine Enttäuschung hinnehmen bzw. nie eine Antwort bekommen, oder aufhören und meine Zeit sinnvoller investieren. In diesem Zustand der Schwebe stieß ich schließlich auf eine Übersicht Berends davon, was sie bei ihrem Besuch des Archivs noch zum Wolgadeutschen vorgefunden hatte. Darunter – und hier beginnt eine unglaubliche Glückssträhne – ein „Großteil Wenker-Fragebögen“, und zwar in der Summe 308 Stück, also mehr als die 78 Lonsinger-Bögen (Jedig & Berend 2014: 160)! Die erste eindeutige Bestätigung, dass im Archiv in Engels zum Zeitpunkt 1988 und damit sehr wahrscheinlich noch heute die originalen wolgadeutschen Wenkerfragebögen lagerten/lagern. Zeitgleich hatte ich die Website des Archivs durchforstet und war auf eine Bemerkung gestoßen, dass es über den Nachlass Dinges’ verfügte. Ich versuchte mein Glück mit einer E‑Mail und bekam drei Wochen später eine Antwort. Folgende Zeilen ließen mein Herz höher schlagen:
In unserem Archiv ist der Fond der von Ihnen erwähnten Forscher Hrn. Dulson A., Hrn. Dinges G. sowie Unterlagen Hrn. Lonsinger A. vorhanden. In diesem Fond wurden gemäß Ihrer Anfrage 4 Akten aufgefunden, in denen … die von Ihnen erwähnten Wenker-Bogen sicher vorhanden sein können.
Gefunden!
Das war noch kein Beweis, aber ich war den Fragebögen so nah wie nie! Für eine genauere Auskunft musste ich dem Archiv allerdings gegen Vorkasse einen Suchauftrag erteilen. Für 1940 Rubel erhielt ich dann am 29.05.2019, einen Tag nach meinem Geburtstag, folgende Mitteilung:
In unserem Archiv ist der Fond der von Ihnen erwähnten Forscher Hrn. Dulson A., Hrn. Dinges G. sowie Unterlagen Hrn. Lonsinger A. vorhanden. In diesem Fond wurden gemäß Ihrer Anfrage 4 Akten mit folgenden Daten aufgefunden:
- Manuskript über die Geschichte der Ansiedlung von deutschen Mennoniten vom 1834, erstellt vom Bevollmächtigten der deutschen Mennoniten Klaus Epp (21 Seite)
- die von Ihnen erwähnten „Wenker-Bogen“ (914 Seiten)
Das war er, mein Heureka-Moment! Ich musste die E‑Mail mehrmals lesen, weil mir vor Aufregung die Buchstaben vor Augen verschwammen. Die wolgadeutschen Wenkerfragebögen hatten bis heute überdauert! Hätten es die Umstände zugelassen, ich wäre sofort ins Auto gesprungen und hätte mich auf den Weg gemacht. Nach wie vor ist mein Ziel, irgendwann das Archiv zu besuchen; die Dokumente persönlich zu sehen, die Dinges, Dulson, Lonsinger und ihre MitarbeiterInnen erstellt, gesammelt und beforscht hatten; das gleiche Papier zu berühren. Ich musste mich jedoch damit begnügen, zunächst weiterhin digital unterwegs zu sein. Ich bestellte zunächst auf eigene Kosten einige Digitalisate, um zu gewährleisten, dass die Qualität der Dateien für eine wissenschaftliche Arbeit ausreichte. Das Archiv lieferte zufriedenstellende Ergebnisse und ich machte mich auf die Suche nach Fördergeldern, um Scans aller Fragebögen bestellen zu können. Das Bundesministerium für Kultur und Medien (genauer: zur Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa) bewilligte die Mittel für die gesamte Digitalisierung und dazu noch eine studentische Hilfskraft, die das Material in einem ersten Schritt sichten und ordnen sollte. Es würde aber, auch dank der Covid-19-Pandemie und dem schwierigen Zahlungsverkehr mit Russland, noch bis Januar 2021 dauern, bis ich endlich alle Digitalisate bekam. Dann dauerte es noch einmal bis April 2022, bis die Bögen inkl. einer groben Übersicht der Metadaten im Forschungsdatenrepositorium der Philipps-Universität Marburg archiviert und veröffentlicht werden konnten (http://dx.doi.org/10.17192/fdr/86). Knapp zwei Monate davor war Russland in die Ukraine einmarschiert.
Und nun?
Im Nachhinein weiß ich, dass Glück und Zufall in meiner Schatzsuche eine große Rolle gespielt haben. Selbst 2019 war es unglaublich, dass ein russisches Archiv eigenem Material (bzw. dessen Scans) den Weg ins Ausland erlaubte. Dass das überhaupt möglich war, mag daran liegen, dass das Engelser Archiv keine staatliche Institution, sondern unabhängig ist. Der Erwerb der Digitalisate wäre aber heute, im Jahre 2023, fast unmöglich, da der Zahlungsverkehr mit Russland sehr stark eingeschränkt ist. Hätte ich das gewusst, hätte ich versucht, so viel von dem anderen Material digitalisieren zu lassen wie möglich – so ist dessen Erforschung auf unbestimmte Zeit verschoben.
Mein wolgadeutscher „Wenkerschatz“ aber ist da. Ganz im Sinne einer modernen, quell-offenen Forschung liegt er in einem Datenrepositorium und kann überall auf der Welt angeschaut werden. Die niederdeutschen Wenkersätze der Wolgadeutschen sind bereits Teil meiner aktuellen Forschung; die Beforschung der hochdeutschen Wenkersätze ist geplant. Begonnen mit dem WDSA, erfährt die Arbeit wolgadeutscher Intellektueller somit weiter ihre wohlverdiente Wertschätzung.
Gefördert von:
Literatur
Berend, Nina. 1993. Der Wolgadeutsche Sprachatlas: ein historischer Beitrag zur deutschen Dialektologie. In Klaus J. Mattheier, Klaus-Peter Wegera, Walter Hoffmann & Hans-Joachim Solms (eds.), Vielfalt des Deutschen: Festschrift für Werner Besch, 583–594. Frankfurt am Main: Lang.
Berend, Nina (ed.). 1997. Wolgadeutscher Sprachatlas (WDSA) aufgrund der von Georg Dinges 1925–1929 gesammelten Materialien bearbeitet und herausgegeben von Nina Berend unter Mitarbeit von Rudolf Post. Tübingen: Francke.
Berend, Nina & Hugo H. Jedig. 1991. Deutsche Mundarten in der Sowjetunion: Geschichte der Forschung und Bibliographie (Schriftenreihe der Kommission für Ostdeutsche Volkskunde in der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde e.VBd. 53). Marburg: Elwert.
Dinges, Georg. 1923. Ueber unsere Mundarten. In Beiträge zur Heimatkunde des deutschen Wolgagebiets, 60–72. Pokrowsk (Kosakenstadt): Abteilung für Volksbildung des Gebiets der Wolgadeutschen.
Dinges, Georg. 1925. Zur Erforschung der wolgadeutschen Mundarten. Teuthonista 1(4). 299–313.
Dinges, Georg. 1927. Zur Schaffung eines Wörterbuches der wolgadeutschen Mundarten: Aufruf zur Sammlung des mundartlichen Wortschatzes unserer Dörfer für das Wolgadeutsche Wörterbuch. Wolgadeutsches Schulblatt 1, https://ids-pub.bsz-bw.de/frontdoor/index/index/start/7/rows/10/sortfield/score/sortorder/desc/searchtype/simple/query/Wolgadeutsch/docId/10659.
Fleischer, Jürg. 2017. Geschichte, Anlage und Durchführung der Fragebogen-Erhebungen von Georg Wenkers 40 Sätzen. Dokumentation, Entdeckungen und Neubewertungen (Deutsche Dialektgeographie). Hildesheim, Zürich, New York: Olms.
Fleischer, Jürg & Larissa N. Pusejkina. 2017. V. M. Schirmunskis Erhebungen der Wenkersätze in der Sowjetunion: Entstehung und Durchführung einer Dialektbefragung (mit einer exemplarischen Analyse). In Natalija Ganina, Klaus Klein, Ekaterina R. Skvajrs & Jürgen Wolf (eds.), Deutsch-russische Kulturbeziehungen in Mittelalter und Neuzeit: Aus abendländischen Beständen in Russland (Deutsch-russische Forschungen zur BuchgeschichteBand 4), 263–283. Erfurt, Stuttgart: Verlag der Akademie Gemeinnütziger Wissenschaften zu Erfurt; in Kommission bei Franz Steiner Verlag GmbH.
Jedig, Hugo H. & Nina Berend. 2014. Lepel, Laumptje, Lostichkeit: Gesammelte Beiträge zu deutschen Mundarten in der Sowjetunion. Mannheim: IDS.
Lameli, Alfred. 2013/2014. Vorwort. In Georg Wenker (ed.), Schriften zum „Sprachatlas des Deutschen Reichs“. Gesamtausgabe. Herausgegeben von Alfred Lameli. Unter Mitarbeit von Johanna Heil und Constanze Wellendorf (Deutsche Dialektgeographie 111, 1–3), vol. 1, IX. Hildesheim: Olms.
Lameli, Alfred. 2020. “das eigentlich vertfolste für das algemeine ist an aller vissenschaft die metode”. Niederdeutsches Jahrbuch 143. 9–31.
Mitzka, Walther. 1930. Die Sprache der deutschen Mennoniten. Heimatblätter des deutschen Heimatbundes 8(1). 3–23.
Müller, Neele J. 2013. Tense, aspect, modality, and evidentiality marking in South American indigenous languages (LOT 324). Utrecht: LOT.
Schmidt, Jürgen E., Joachim Herrgen, Roland Kehrein, Alfred Lameli & Hanna Fischer (eds.). 2020ff. Regionalsprache.de (REDE). Forschungsplattform zu den modernen Regionalsprachen des Deutschen. Bearbeitet von Robert Engsterhold, Heiko Girnth, Simon Kasper, Juliane Limper, Georg Oberdorfer, Tillmann Pistor, Anna Wolańska. Unter Mitarbeit von Dennis Beitel, Milena Gropp, Maria Luisa Krapp, Vanessa Lang, Salome Lipfert, Jeffrey Pheiff, Bernd Vielsmeier. Studentische Hilfskräfte. Marburg.
Smirnitskaja, S. V. 2000. G. Dinges i nemeckaja dialektologija v Rossii. In Galina I. Smagina (ed.), Nemcy v Rossii: Russko-nemeckie naučnye i kul’turnye svjazi, 55–60. S.-Peterburg: Dmitrij Bulanin.
Wenker, Georg. 1877. Das rheinische Platt.: Den Lehrern des Rheinlandes gewidmet von Dr. G. Wenker. (Deutsche Dialektgeographie 8). Düsseldorf: Selbstverlag.
Wenker, Georg. 1888–1923. Sprachatlas des Deutschen Reichs. Marburg.
Wenker, Georg (ed.). 2013/2014. Schriften zum „Sprachatlas des Deutschen Reichs“. Gesamtausgabe. Herausgegeben von Alfred Lameli. Unter Mitarbeit von Johanna Heil und Constanze Wellendorf (Deutsche Dialektgeographie 111, 1–3). Hildesheim: Olms.
Diesen Beitrag zitieren als:
Neele Harlos. 2023. Russlanddeutsche Sprachspuren: Wolgadeutsche Wenkerschätze. In: Sprachspuren: Berichte aus dem Deutschen Sprachatlas 3(6). https://doi.org/10.57712/2023-06