Mikro- und Makrobeschreibungen sprachlicher Repräsentationen. Ein- und Ausblicke des Marburger Graduiertenkollegs

Einblicke: Sprachliche Repräsentation und das Mikro-Makro-Problem

Sprache ist für den Menschen nicht bloß Kommu­ni­ka­ti­ons­me­di­um, sondern auch ein Werkzeug zur Welterschlie­ßung. Die kognitive Sprach­ver­ar­bei­tung ist dabei ein in hohem Maße indivi­du­el­ler Vorgang: Wir nehmen Eindrücke (Inputs) wahr, verar­bei­ten diese mental bzw. neuronal und können Ausdrücke (Outputs) produ­zie­ren. Diese Ausdrücke stehen aber nicht isoliert dar, sie sind Gegen­stand von Inter­ak­tio­nen und für andere Indivi­du­en wiederum Eindrücke, die sie zu Ausdrü­cken verar­bei­ten. Auch wenn dieser Zusam­men­hang recht plausibel erscheint, bleiben viele Fragen offen. Zentrale Fragen dabei sind: Wie entstehen Ausdrücke aus Eindrü­cken? Was passiert in der sogenann­ten Black Box, der mentalen Verar­bei­tungs­in­stanz (Kasper & Hoffmeis­ter 2022)? Mit diesen Prozessen auf der Mikroebe­ne, d.h. der indivi­du­el­len Sprach­ver­ar­bei­tung und den einzelnen Sprach­hand­lun­gen, beschäf­ti­gen sich zwei Bereiche des Marburger Graduiertenkollegs 2700 zu Dynamik und Stabi­li­tät sprach­li­cher Reprä­sen­ta­tio­nen.

Es bleibt aber mindes­tens noch eine zweite, sehr wichtige Frage offen: Wie sind kollek­ti­ve Effekte, also Sprach­struk­tu­ren (Muster, Schemata, Konstruk­tio­nen, Normen usw.: Makroebene), zu erklären, die aus den indivi­du­el­len (Sprach-)Handlungen, d.h. den aggre­gier­ten Ausdrü­cken, entstehen. Mit anderen Worten: Wie kann der Zusam­men­hang zwischen indivi­du­el­len Ein- und Ausdrü­cken (Mikroebene) und sprach­li­chen Konven­tio­nen bzw. der allge­mei­nen Sprach­struk­tur (Makro­ebe­ne) beschrie­ben werden? Welche Mikro­ef­fek­te nehmen Einfluss auf die kollek­ti­ven Effekte der Makro­ebe­ne und wie beein­flus­sen diese wiederum die indivi­du­el­len Handlun­gen? Kann die Kluft zwischen Sprachgebrauch und Sprachsystem mit einem geeig­ne­ten Reprä­sen­ta­ti­ons­be­griff überbrückt werden? Diese Frage­stel­lung ist der konzep­tu­el­le Rahmen des seit März 2022 laufenden Marburger Gradu­ier­ten­kol­legs, der in einem Rahmen­pro­jekt (Teilprojekt D) unter­sucht wird. In den weiteren elf Teilpro­jek­ten (zu Neuro­lin­gu­is­tik [A], Sprach­er­werb & Inter­ven­ti­on [B] und Varia­ti­ons­lin­gu­is­tik [C]) sowie einer assozi­ier­ten Nachwuchs­for­schungs­grup­pe werden in der ersten Kohorte bis Februar 2025 einzelne Aspekte dieser Frage des konzep­tu­el­len Rahmens unter­sucht, die dann wiederum über das Rahmen­pro­jekt ([D]) verbunden werden. Dieser Struktur folgt auch die Gliede­rung des Beitrages: Zunächst wird der Bereich Neuro­lin­gu­is­tik vorge­stellt, anschlie­ßend wird ein Blick auf die Erwerbs- und Inter­ven­ti­ons­pro­jek­te geworfen. Den dritten Teil stellt die Beschrei­bung der varia­ti­ons­lin­gu­is­ti­schen Vorhaben dar.

Neurophysiologische Perspektiven auf sprachliche Repräsentation

Der Teilbe­reich A nutzt einen neuro­lin­gu­is­ti­schen Zugang zu sprach­li­chen Reprä­sen­ta­tio­nen und stellt die neuro­na­len Grund­la­gen von Sprach­ver­ar­bei­tungs­pro­zes­sen in den Fokus der Unter­su­chun­gen. Ziel des Teilbe­rei­ches ist dabei, Evidenzen über die räumli­chen und zeitli­chen Abläufe während der Sprach­ver­ar­bei­tung zu sammeln. Gegen­stand des Bereichs sind also die Black Box-Prozesse auf der Mikroebene.

Frühere neuro­wis­sen­schaft­li­che Unter­su­chun­gen haben gezeigt, dass die Sprach­ver­ar­bei­tung im Gehirn über zahlrei­che Prozesse abläuft, die über verschie­de­ne Gehirn­re­gio­nen verteilt sind und unter­schied­li­che zeitliche Verläufe aufweisen. Studien zu spezi­fi­schen Aspekten und Sprach­ebe­nen konnten die allge­mei­nen Ergeb­nis­se bereits soweit verdich­ten, dass sie spezi­fi­sche Gehirn­area­le und zeitliche Verläufe heraus­ge­ar­bei­tet haben, die besonders sensitiv und relevant für die einzelnen Sprach­ver­ar­bei­tungs­pro­zes­se sind. Ziel des Teilbe­rei­ches ist es, diese Befunde auf weitere Phänomene auszu­wei­ten und somit den Aufbau sprach­li­cher Reprä­sen­ta­tio­nen auf neuro­na­ler Ebene empirisch zu untersuchen.

Im Teilbe­reich A des GRK wird in erster Linie mit neuro­phy­sio­lo­gi­schen Methoden wie Elektroenzephalographie (EEG) mit ereig­nis­kor­re­lier­ten Poten­tia­len (EKPs) oder (funktioneller) Magnetresonanztomographie ((f)MRT) gearbei­tet. Obwohl beide Methoden ursprüng­lich aus der Medizin bzw. der medizi­ni­schen Diagnos­tik stammen, haben sie bereits vor einigen Jahrzehn­ten Einzug in die sprach­wis­sen­schaft­li­che Forschung erhalten. Sie ermög­li­chen – im Vergleich zu behavi­ora­len Methoden, wie Frage­bo­gen­er­he­bun­gen oder Produk­ti­ons­stu­di­en – die Aufzeich­nung der Verar­bei­tungs­pro­zes­se in hoher räumli­cher und zeitli­cher Auflösung und dies ohne eine explizite Aufga­ben­stel­lung an die Proband:innen zu stellen. Dadurch können schließ­lich auch unter- bzw. vorbe­wuss­te Prozesse aufge­zeich­net werden, die keine bewusste Entschei­dung durch die Proband:innen erfordern. Während sich EEG-Messungen vor allem durch ihre hohe zeitliche Auflösung auf Milli­se­kun­den­ba­sis auszeich­nen, dient das fMRT in erster Linie der räumli­chen Unter­su­chung und zeichnet die unter­schied­li­che areale Vertei­lung von Verar­bei­tungs­pro­zes­sen im Gehirn auf.

Für die Unter­su­chung des zeitli­chen Verlaufs mittels EEG — und somit auch für die Frage­stel­lun­gen des Gradu­ier­ten­kol­legs besonders relevant — sind sogenann­te ereig­nis­kor­re­lier­te Poten­tia­le. Es handelt sich hierbei um spezi­fi­sche Gehirn­ak­ti­vi­tä­ten (sogenann­ten Gehirn­ant­wor­ten), die zu spezi­fi­schen Zeitpunk­ten während der neuro­na­len Sprach­ver­ar­bei­tung auftreten und die meist mit spezi­fi­schen Verar­bei­tungs­pro­zes­sen in Verbin­dung gebracht werden (Remijn et al. 2014). Ein promi­nen­tes Beispiel ist die N1, eine Gehirn­ant­wort mit einer negativen Ausrich­tung, die circa 100 ms nach Beginn des Stimulus (Stimu­lu­son­set) auftritt. Sie gilt als sehr frühe Gehirn­ant­wort, die frühe Verar­bei­tungs­pro­zes­se abbildet. Sie wurde in der Vergan­gen­heit vor allem im Zusam­men­hang mit der audito­ri­schen Verar­bei­tung und speziell mit der Verar­bei­tung von Vokalen beobach­tet (Näätänen & Picton 1987; Frank et al. 2020).

Über EEG- und fMRT-Studien lassen sich somit Infor­ma­tio­nen darüber gewinnen, welche Prozesse welchen zeitli­chen Ablauf in welchem Gehirn­are­al aufweisen. Der Teilbe­reich A ergänzt somit die Teilbe­rei­che B und C (s.u.) durch seinen neuro­wis­sen­schaft­li­chen Zugang zu sprach­li­chen Reprä­sen­ta­tio­nen, indem die einer bewussten Entschei­dung zugrun­de­lie­gen­den Prozesse auf neuro­bio­lo­gi­scher Ebene aufge­zeich­net und sichtbar gemacht werden.

Die thema­ti­sche Breite der vier Promo­ti­ons­pro­jek­te im neuro­wis­sen­schaft­li­chen Teilbe­reich reicht von der Morpho­lo­gie der Diminu­tiv­for­men im Deutschen (bearbei­tet von Denise Jung), über regio­nal­sprach­li­che Prosodie bzw. pre-boundary lengthening (Promo­ti­ons­pro­jekt von Nadja Spina) und der Unter­su­chung von Korona­li­sie­rung und Hyper­kor­rek­ti­on von deutschen dorsalen und koronalen Frika­ti­ven über EKPs bei unter­schied­li­chen Sprecher:innentypen (durch­ge­führt von Dominik Thiele) hin zur Neuro­bio­lo­gie des Vokal­raums. Das letzt­ge­nann­te Projekt, das von Paula Rinke bearbei­tet wird, fokus­siert insbe­son­de­re die Stimme: Zentrale Frage­stel­lung des Projektes ist, inwiefern Stimm­merk­ma­le, also z. B. Sprecher:innengeschlecht bzw. ‑alter oder emotio­na­le Zustände, frühe Sprach­ver­ar­bei­tungs­pro­zes­se beein­flus­sen. Sogenann­te indexi­ka­li­sche Merkmale sind unwei­ger­lich in jeder sprach­li­chen Äußerung enthalten und geben Aufschluss über die Merkmale und Eigen­schaf­ten der Sprechen­den. Während die Stimme in der Vergan­gen­heit in der genera­ti­ven Lingu­is­tik sowie in frühen Sprach­ver­ar­bei­tungs­mo­del­len weitest­ge­hend unbeach­tet war, lieferten spätere Verhal­tens­stu­di­en Evidenzen dafür, dass auch die Verar­bei­tung von Sprecher:innenmerkmalen die frühe Sprach­ver­ar­bei­tung beein­flusst. Konkret konnte nachge­wie­sen werden, dass sowohl das wahrge­nom­me­ne Geschlecht (Strand 1999) als auch das Alter (Drager 2012) der Sprecher:innen einen Einfluss auf die Katego­ri­sie­rung von Sprach­lau­ten des Sprechen­den hat. Ziel dieses Promo­ti­ons­pro­jek­tes ist, diese Integra­ti­ons­pro­zes­se auf neuro­na­ler Ebene zu unter­su­chen und über frühe EKPs (insbe­son­de­re die N1) Infor­ma­tio­nen über den Zeitver­lauf dieser Prozesse zu erhalten. Erste Ergeb­nis­se zeigen bereits, dass neben prägnan­ten Sprecher:innenmerkmalen, wie Geschlecht oder Alter auch die Bekannt­heit der Stimme bzw. des Sprechen­den zu einem frühen Zeitpunkt verar­bei­tet wird (circa 150 ms nach Stimu­lu­son­set: Rinke et al. 2022).

Eine Verzah­nung mit den anderen Bereichen ergibt sich, da auch die Arealität bzw. regionale Merkmale als indexi­ka­li­sche Merkmale übertra­gen werden, die sich wiederum in einzelnen Sprach­ge­mein­schaf­ten aggre­gie­ren. Insbe­son­de­re Teilbe­reich C setzt sich mit der Makro­ebe­ne ausein­an­der und kann von den Ergeb­nis­sen profitieren.

Der Erwerb sprachlicher Repräsentation und Möglichkeiten zur Intervention

Die Projekte des Teilbe­reichs B befassen sich mit der Stabi­li­tät und Dynamik sprach­li­cher Reprä­sen­ta­tio­nen im Bereich des Sprach­er­werbs. Die verschie­de­nen Projekte legen dabei ihren Fokus sowohl auf den typischen und atypi­schen Erwerbs­ver­lauf als auch auf die Entwick­lung in den Kontexten der Mehrspra­chig­keit und des Dialek­ter­werbs; die Projekte berück­sich­ti­gen damit sowohl Perspek­ti­ven der Mikro- wie der Makro­ebe­ne. Simone Nopens widmet sich dem Erwerb des mittel­frän­ki­schen Tonak­zents im Erstsprach­er­werb sowie den damit verbun­de­nen Abbau­ten­den­zen. Alexia Despina Leonidou unter­sucht die Heraus­for­de­run­gen des Vokal­erwerbs in mehrspra­chi­gen Kontexten (Italienisch-Deutsch) und ob in einem solchen Kontext der Vokal­erwerb durch gezielte Unter­stüt­zung erleich­tert werden kann.

Francie Höhler befasst sich in ihrem Projekt mit der Frage, wie Kinder die typische Wortstruk­tur des Deutschen, die aus betonter und unbeton­ter Silbe besteht, erwerben und wie sich deren Ausspra­che im Erwerbs­ver­lauf verändert: Ein Großteil der Wörter des Standard­deut­schen ist trochä­isch struk­tu­riert, d.h. das Wort besteht aus zwei Silben, bei denen die Betonung auf der ersten Silbe liegt (Initi­al­ak­zent: z. B. FLA-sche). Der Vokal der unbeton­ten Silbe ist das Schwa bzw. der mittlere Zentral­vo­kal (ortho­gra­phisch <e>); er kennzeich­net diese Silbe als Reduk­ti­ons­sil­be und kommt nur in diesen unbeton­ten Silben vor. Das gesamte zweisil­bi­ge Muster, der Trochäus mit der Kombi­na­ti­on aus einer Vollsilbe mit folgender Reduk­ti­ons­sil­be, kommt im Standard­deut­schen sehr häufig vor (Wiese 2000), wodurch das Schwa für den grund­le­gen­den Rhythmus des Standard­deut­schen mitver­ant­wort­lich ist. Auch in der Wortbil­dung spielt es eine wichtige Rolle. So tritt sie in der Plural­bil­dung auf (Sg. Schwein, Pl. Schweine (zweisil­big, Initi­al­ak­zent)) oder bei der Adjek­tiv­fle­xi­on (z.B. Das schöne Haus. (schön: zweisil­big, Initi­al­ak­zent)) (Wiese 1986).

Gerade weil die trochäi­sche Struktur so häufig vorkommt, stellt sie einen zentralen Gegen­stand des Sprach­er­werbs dar. Kinder stehen vor der Heraus­for­de­rung, die trochäi­sche Wortstruk­tur inklusive der Reduk­ti­ons­sil­be nicht nur zu erkennen (Perzep­ti­on), sondern sie in den dafür vorge­se­he­nen Kontexten korrekt einzu­set­zen und anzuwen­den (Produk­ti­on). Dafür werden entspre­chen­de Reprä­sen­ta­tio­nen angelegt. Ist dies nicht der Fall, kann es zu Verzö­ge­run­gen im Worter­werb kommen, wie Fallbei­spie­le aus der klini­schen Lingu­is­tik zeigen (Kauschke 2018).

Um den Erwerbs­ver­lauf der Reduk­ti­ons­sil­be im frühen Erstsprach­er­werb des Deutschen aufzu­zei­gen, wird das Osnabrück-Korpus (Grimm 2007) im Hinblick auf diese Silben­struk­tur ausge­wer­tet. Für das Korpus wurden vier Kinder über circa ein Jahr regel­mä­ßig besucht, wobei in Spiel­si­tua­tio­nen Tonauf­zeich­nun­gen angefer­tigt wurden, die sich dazu eignen, die Entwick­lung der Produk­ti­on des Reduk­ti­ons­vo­kals zu unter­su­chen. Wörter, die das oben beschrie­be­ne zweisil­bi­ge Schema mit Initi­al­ak­zent aufweisen, werden dafür aus dem Korpus extra­hiert und anschlie­ßend werden die Arten der Abwei­chung, die in der Produk­ti­on der Kinder vorkommen, katego­ri­siert sowie deren Auftre­tens­häu­fig­keit unter­sucht. Daraus lassen sich Verwen­dungs­di­ver­gen­zen zwischen Schwa und Vollvokal ableiten und erkennen, ob es bei diesen Abwei­chun­gen präfe­rier­te und rekur­ren­te Vokale gibt. Des Weiteren wird gefragt, ob und inwiefern die Zahl der standard­sprach­li­chen, d.h. korrekten, Produk­tio­nen zunimmt. In einem weiteren Schritt werden mehrsil­bi­ge Wörter mit Reduk­ti­ons­sil­be in mittiger Position nach dem gleichen Prinzip analy­siert (z. B. Schmet­ter­ling). Anschlie­ßend kann vergli­chen werden, ob es hier zu ähnlichen Produk­ti­ons­pro­zes­sen kommt. Die Daten werden auch mit Bezug auf bestehen­de Forschung zum Worter­werb inter­pre­tiert (Vihmann & Vellemann 2000; Vihmann 2017; Kehoe &Lléo 2003).

Sprachliche Repräsentation (nicht nur) in regionaler Variation

Die Projekte des Teilbe­rei­ches C behandeln Phänomene der Makro­ebe­ne. Dabei geht es vorrangig um die Frage, wie sich Varie­tä­ten und Varianten (sprach­his­to­risch) verändern und in welchem Zusam­men­hang dieser Sprach­wan­del mit sprach­li­chen Reprä­sen­ta­tio­nen steht. Die einzelnen Projekte widmen sich Sprach­wan­del in verschie­de­nen lingu­is­ti­schen Bereichen: Phono­lo­gie, Grammatik und Semantik.

Auf seman­ti­scher Ebene können Wandel­pro­zes­se zu Verän­de­run­gen der Inhalts­sei­te sprach­li­cher Zeichen führen, etwa durch Bedeu­tungs­über­tra­gun­gen (Metonymisierung und Metaphorisierung). Ziel des Projektes von Maike Park ist es, den komplexen Bedeu­tungs­auf­bau und ‑wandel der Positi­ons­ver­ben stehen, sitzen, hängen und liegen anhand von Korpus­un­ter­su­chun­gen nachzuvollziehen.

Auf morpho­syn­tak­ti­scher Ebene können diachrone Umbau­pro­zes­se beobach­tet werden, die zu Verän­de­run­gen der Ausdrucks­for­men bei sprach­li­chen Katego­rien wie z. B. Modus oder Genus führen (Fleischer & Simon 2013). Immer wieder werden Belebt­heit oder Frequenz als Faktoren für solche Verän­de­run­gen genannt. Den Einfluss dieser poten­zi­el­len Faktoren prüft Christin Schütze mit Hilfe von Akzeptanz- und EEG-Studien bei genus-(in)kongruenten Posses­si­va. 1Im Deutschen kongru­iert das Posses­siv­pro­no­men der 3. Person Singular mit dem Genus des Posses­sors (der Vater … sein Auto; die Mutter … ihr Auto). Es finden sich jedoch auch im Standard­deut­schen Belege für genus-inkongruente Posses­si­va, bei denen sich das Posses­siv­pro­no­men sein auf Feminina bezieht, beispiels­wei­se “die Sache geht seinen Weg” (Duden Grammatik 2016: 275). Gehen synthe­ti­sche Formen in der Morpho­lo­gie verloren oder werden stark abgebaut, steht dies oft im Zusam­men­hang mit dem Umbau hin zu analytischen Formen. Das Projekt von Maria Luisa Krapp unter­sucht die Dynamik des Modus­aus­drucks im Konjunk­tiv in den regio­na­len Varie­tä­ten des Deutschen, um so Faktoren für Ab- und Umbau­pro­zes­se auf morpho­syn­tak­ti­scher Ebene bestimmen zu können.

Durch phonologisch-prosodische Anpas­sun­gen der großre­gio­na­len Dialekt­ver­bän­de an die Schrift­spra­che sind die modernen Regio­lek­te entstan­den (Ganswindt 2017). Obwohl die Regio­lek­te heute die wichtigs­ten und am häufigs­ten verwen­de­ten Varie­tä­ten der modernen deutschen Regio­nal­spra­chen darstel­len, sind ihre Grenzen nur in wenigen Fällen bekannt (Purschke 2011; Kleene 2020). Milena Gropp beschäf­tigt sich in ihrem Projekt mit der horizon­ta­len Abgren­zung der deutschen Regio­lek­te. Der Unter­su­chungs­raum dieses Projekts ist das Bundes­land Hessen, das durch seine besondere sprach­li­che Situation gekenn­zeich­net ist: In keinem anderen Bundes­land Deutsch­lands liegen so viele Dialekt­area­le auf relativ kleinem Raum neben­ein­an­der. Nach der Dialekteinteilung von Wiesinger (1983) befinden sich auf dem Gebiet des heutigen Bundes­lands Hessen die mittel­deut­schen Dialek­t­räu­me Zentral‑, Ost- und Nordhes­sisch sowie Rhein­frän­kisch (ein sehr kleiner Teil im Osten Hessens wird außerdem dem Thürin­gi­schen zugeord­net) und die nieder­deut­schen Dialek­t­räu­me Ost- und Westfä­lisch im Norden. Mitten durch den im nördli­chen Hessen liegenden Landkreis Waldeck-Frankenberg verläuft die Sprach­gren­ze zwischen dem nieder­deut­schen und dem mittel­deut­schen Sprach­raum, die sogenann­te Benrather Linie (auch maken/machen-Linie). Dabei fällt die Sprach­gren­ze im nördli­chen Hessen mit den alten Stammes­gren­zen zwischen Sachsen und Franken zusammen (Stracke 1909: 250). Diese Stammes­zu­ge­hö­rig­keit spiegelt sich heute in einigen Ortsnamen wider: Sachsenberg und Sachsenhausen nördlich der Benrather Linie; Frankenberg und Frankenau südlich der Sprach­gren­ze. Ob diese Sprach­gren­ze, die seit über 1000 Jahren besteht, in Zeiten schwin­den­der Dialekt­kom­pe­tenz und hoher Mobilität überhaupt noch eine Relevanz für die Menschen in Hessen besitzt, sollen eine Perzep­ti­ons­stu­die sowie eine Frage­bo­gen­er­he­bung im Nordhes­si­schen und Westfä­li­schen zeigen. Beim Perzep­ti­ons­test sollen Hörer:innen Aufnahmen von Sprecher:innen dialektal und regional verorten. Ergänzend zum Perzep­ti­ons­test erhebt der Frage­bo­gen Sprecher:innenurteile über den eigenen Sprach­ge­brauch sowie Sprach­ein­stel­lun­gen. So sollen etwa die Teilneh­men­den einschät­zen, wie gut sie den Dialekt/das Platt ihrer Heimat­re­gi­on sprechen können oder wie gut Ihnen der Dialekt/das Platt Ihrer Region gefällt. Diese Ergeb­nis­se können nicht zuletzt in Verbin­dung mit Teilbe­reich A betrach­tet werden, in dem neuro­bio­lo­gi­sche Evidenzen für areale Distink­tio­nen unter­sucht werden.

Ausblicke: Was ist sprachliche Repräsentation?

Diese Einblicke haben die Grund­struk­tur des Marburger Gradu­ier­ten­kol­legs verdeut­licht: Sprach­li­che Reprä­sen­ta­ti­on wird sowohl mit einem Fokus auf der Mikro- wie auch der Makro­ebe­ne unter­sucht, alle einzelnen Projekte werden über einen theore­ti­schen Rahmen mitein­an­der verbunden, indem ein umfas­sen­der Begriff sprach­li­cher Reprä­sen­ta­tio­nen erarbei­tet wird, der Elemente der neuro­na­len Verar­bei­tung, des Sprach­er­werbs und der (regio­na­len) Variation mitein­an­der vereint. Das Vorgehen zeichnet sich somit vor allem dadurch aus, dass ausgehend von der Empirie, ein kohären­ter theore­ti­scher Ansatz entwi­ckelt wird, in dessen Zentrum sprach­li­che Reprä­sen­ta­tio­nen als sprach­theo­re­ti­scher Zentral­be­griff verortet werden, sodass Mikro- und die Makro­ebe­ne überbrückt werden können. Das langfris­ti­ge Ziel ist damit eine empirisch fundierte, human­öko­lo­gisch und anthro­po­lo­gisch plausible Sprach­theo­rie (Kasper 2020; Hoffmeis­ter 2021). Doch was ist sprach­li­che Reprä­sen­ta­ti­on in diesem Verständ­nis? Diese Frage kann hier noch nicht abschlie­ßend beant­wor­tet werden. Erste Ansätze verfolgen den Weg, mentale Reprä­sen­ta­ti­on als den Verar­bei­tungs­pro­zess von Eindrü­cken (Inputs) zu Ausdrü­cken (Outputs) zu verstehen. Eine Arbeits­de­fi­ni­ti­on bzw. eine Opera­tio­na­li­sie­rung im Hinblick auf sprach­li­che Reprä­sen­ta­tio­nen könnte damit folgen­der­ma­ßen lauten: Sprach­li­che Reprä­sen­ta­tio­nen sind die (kogni­ti­ven) Entspre­chun­gen sprach­li­cher Einheiten (linguistic units) in Rezeptions- und Produk­ti­ons­pro­zes­sen und stellen eine Vermitt­lungs­in­stanz zwischen lebens­welt­li­chen Eindrü­cken und beobacht­ba­ren Ausdrü­cken dar. Die Aufgabe der Teilpro­jek­te im Gradu­ier­ten­kol­leg besteht nun darin, die entspre­chen­den Daten zu liefern, damit die Vermitt­lung zwischen lebens­welt­li­chen Eindrü­cken und beobacht­ba­ren Ausdrü­cken theore­ti­siert werden kann.

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Diesen Beitrag zitieren als:

Gropp, Milena, Hoffmeis­ter, Toke, Höhler, Francie, & Rinke, Paula. 2023. Mikro- und Makro­be­schrei­bun­gen sprach­li­cher Reprä­sen­ta­tio­nen. Ein- und Ausblicke des Marburger Gradu­ier­ten­kol­legs. In: Sprach­spu­ren: Berichte aus dem Deutschen Sprach­at­las 3(4). https://doi.org/10.57712/2023-04

Milena Gropp, Francie Höhler, Toke Hoffmeister und Paula Rinke
Milena Gropp, Francie Höhler und Paula Rinke sind seit März 2022 Doktorandinnen im Graduiertenkolleg 2700 "Dynamik und Stabilität sprachlicher Repräsentationen" an der Philipps-Universität Marburg. Dr. Toke Hoffmeister arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter (PostDoc) im Graduiertenkolleg und widmet sich in seinem Habilitationsprojekt der Entwicklung eines Begriffes sprachlicher Repräsentation(en), der in der Lage ist, die Mikro-Makro-Ebenen miteinander zu vermitteln.