Einblicke: Sprachliche Repräsentation und das Mikro-Makro-Problem
Sprache ist für den Menschen nicht bloß Kommunikationsmedium, sondern auch ein Werkzeug zur Welterschließung. Die kognitive Sprachverarbeitung ist dabei ein in hohem Maße individueller Vorgang: Wir nehmen Eindrücke (Inputs) wahr, verarbeiten diese mental bzw. neuronal und können Ausdrücke (Outputs) produzieren. Diese Ausdrücke stehen aber nicht isoliert dar, sie sind Gegenstand von Interaktionen und für andere Individuen wiederum Eindrücke, die sie zu Ausdrücken verarbeiten. Auch wenn dieser Zusammenhang recht plausibel erscheint, bleiben viele Fragen offen. Zentrale Fragen dabei sind: Wie entstehen Ausdrücke aus Eindrücken? Was passiert in der sogenannten Black Box, der mentalen Verarbeitungsinstanz (Kasper & Hoffmeister 2022)? Mit diesen Prozessen auf der Mikroebene, d.h. der individuellen Sprachverarbeitung und den einzelnen Sprachhandlungen, beschäftigen sich zwei Bereiche des Marburger Graduiertenkollegs 2700 zu Dynamik und Stabilität sprachlicher Repräsentationen.
Es bleibt aber mindestens noch eine zweite, sehr wichtige Frage offen: Wie sind kollektive Effekte, also Sprachstrukturen (Muster, Schemata, Konstruktionen, Normen usw.: Makroebene), zu erklären, die aus den individuellen (Sprach-)Handlungen, d.h. den aggregierten Ausdrücken, entstehen. Mit anderen Worten: Wie kann der Zusammenhang zwischen individuellen Ein- und Ausdrücken (Mikroebene) und sprachlichen Konventionen bzw. der allgemeinen Sprachstruktur (Makroebene) beschrieben werden? Welche Mikroeffekte nehmen Einfluss auf die kollektiven Effekte der Makroebene und wie beeinflussen diese wiederum die individuellen Handlungen? Kann die Kluft zwischen Sprachgebrauch und Sprachsystem mit einem geeigneten Repräsentationsbegriff überbrückt werden? Diese Fragestellung ist der konzeptuelle Rahmen des seit März 2022 laufenden Marburger Graduiertenkollegs, der in einem Rahmenprojekt (Teilprojekt D) untersucht wird. In den weiteren elf Teilprojekten (zu Neurolinguistik [A], Spracherwerb & Intervention [B] und Variationslinguistik [C]) sowie einer assoziierten Nachwuchsforschungsgruppe werden in der ersten Kohorte bis Februar 2025 einzelne Aspekte dieser Frage des konzeptuellen Rahmens untersucht, die dann wiederum über das Rahmenprojekt ([D]) verbunden werden. Dieser Struktur folgt auch die Gliederung des Beitrages: Zunächst wird der Bereich Neurolinguistik vorgestellt, anschließend wird ein Blick auf die Erwerbs- und Interventionsprojekte geworfen. Den dritten Teil stellt die Beschreibung der variationslinguistischen Vorhaben dar.
Neurophysiologische Perspektiven auf sprachliche Repräsentation
Der Teilbereich A nutzt einen neurolinguistischen Zugang zu sprachlichen Repräsentationen und stellt die neuronalen Grundlagen von Sprachverarbeitungsprozessen in den Fokus der Untersuchungen. Ziel des Teilbereiches ist dabei, Evidenzen über die räumlichen und zeitlichen Abläufe während der Sprachverarbeitung zu sammeln. Gegenstand des Bereichs sind also die Black Box-Prozesse auf der Mikroebene.
Frühere neurowissenschaftliche Untersuchungen haben gezeigt, dass die Sprachverarbeitung im Gehirn über zahlreiche Prozesse abläuft, die über verschiedene Gehirnregionen verteilt sind und unterschiedliche zeitliche Verläufe aufweisen. Studien zu spezifischen Aspekten und Sprachebenen konnten die allgemeinen Ergebnisse bereits soweit verdichten, dass sie spezifische Gehirnareale und zeitliche Verläufe herausgearbeitet haben, die besonders sensitiv und relevant für die einzelnen Sprachverarbeitungsprozesse sind. Ziel des Teilbereiches ist es, diese Befunde auf weitere Phänomene auszuweiten und somit den Aufbau sprachlicher Repräsentationen auf neuronaler Ebene empirisch zu untersuchen.
Im Teilbereich A des GRK wird in erster Linie mit neurophysiologischen Methoden wie Elektroenzephalographie (EEG) mit ereigniskorrelierten Potentialen (EKPs) oder (funktioneller) Magnetresonanztomographie ((f)MRT) gearbeitet. Obwohl beide Methoden ursprünglich aus der Medizin bzw. der medizinischen Diagnostik stammen, haben sie bereits vor einigen Jahrzehnten Einzug in die sprachwissenschaftliche Forschung erhalten. Sie ermöglichen – im Vergleich zu behavioralen Methoden, wie Fragebogenerhebungen oder Produktionsstudien – die Aufzeichnung der Verarbeitungsprozesse in hoher räumlicher und zeitlicher Auflösung und dies ohne eine explizite Aufgabenstellung an die Proband:innen zu stellen. Dadurch können schließlich auch unter- bzw. vorbewusste Prozesse aufgezeichnet werden, die keine bewusste Entscheidung durch die Proband:innen erfordern. Während sich EEG-Messungen vor allem durch ihre hohe zeitliche Auflösung auf Millisekundenbasis auszeichnen, dient das fMRT in erster Linie der räumlichen Untersuchung und zeichnet die unterschiedliche areale Verteilung von Verarbeitungsprozessen im Gehirn auf.
Für die Untersuchung des zeitlichen Verlaufs mittels EEG — und somit auch für die Fragestellungen des Graduiertenkollegs besonders relevant — sind sogenannte ereigniskorrelierte Potentiale. Es handelt sich hierbei um spezifische Gehirnaktivitäten (sogenannten Gehirnantworten), die zu spezifischen Zeitpunkten während der neuronalen Sprachverarbeitung auftreten und die meist mit spezifischen Verarbeitungsprozessen in Verbindung gebracht werden (Remijn et al. 2014). Ein prominentes Beispiel ist die N1, eine Gehirnantwort mit einer negativen Ausrichtung, die circa 100 ms nach Beginn des Stimulus (Stimulusonset) auftritt. Sie gilt als sehr frühe Gehirnantwort, die frühe Verarbeitungsprozesse abbildet. Sie wurde in der Vergangenheit vor allem im Zusammenhang mit der auditorischen Verarbeitung und speziell mit der Verarbeitung von Vokalen beobachtet (Näätänen & Picton 1987; Frank et al. 2020).
Über EEG- und fMRT-Studien lassen sich somit Informationen darüber gewinnen, welche Prozesse welchen zeitlichen Ablauf in welchem Gehirnareal aufweisen. Der Teilbereich A ergänzt somit die Teilbereiche B und C (s.u.) durch seinen neurowissenschaftlichen Zugang zu sprachlichen Repräsentationen, indem die einer bewussten Entscheidung zugrundeliegenden Prozesse auf neurobiologischer Ebene aufgezeichnet und sichtbar gemacht werden.
Die thematische Breite der vier Promotionsprojekte im neurowissenschaftlichen Teilbereich reicht von der Morphologie der Diminutivformen im Deutschen (bearbeitet von Denise Jung), über regionalsprachliche Prosodie bzw. pre-boundary lengthening (Promotionsprojekt von Nadja Spina) und der Untersuchung von Koronalisierung und Hyperkorrektion von deutschen dorsalen und koronalen Frikativen über EKPs bei unterschiedlichen Sprecher:innentypen (durchgeführt von Dominik Thiele) hin zur Neurobiologie des Vokalraums. Das letztgenannte Projekt, das von Paula Rinke bearbeitet wird, fokussiert insbesondere die Stimme: Zentrale Fragestellung des Projektes ist, inwiefern Stimmmerkmale, also z. B. Sprecher:innengeschlecht bzw. ‑alter oder emotionale Zustände, frühe Sprachverarbeitungsprozesse beeinflussen. Sogenannte indexikalische Merkmale sind unweigerlich in jeder sprachlichen Äußerung enthalten und geben Aufschluss über die Merkmale und Eigenschaften der Sprechenden. Während die Stimme in der Vergangenheit in der generativen Linguistik sowie in frühen Sprachverarbeitungsmodellen weitestgehend unbeachtet war, lieferten spätere Verhaltensstudien Evidenzen dafür, dass auch die Verarbeitung von Sprecher:innenmerkmalen die frühe Sprachverarbeitung beeinflusst. Konkret konnte nachgewiesen werden, dass sowohl das wahrgenommene Geschlecht (Strand 1999) als auch das Alter (Drager 2012) der Sprecher:innen einen Einfluss auf die Kategorisierung von Sprachlauten des Sprechenden hat. Ziel dieses Promotionsprojektes ist, diese Integrationsprozesse auf neuronaler Ebene zu untersuchen und über frühe EKPs (insbesondere die N1) Informationen über den Zeitverlauf dieser Prozesse zu erhalten. Erste Ergebnisse zeigen bereits, dass neben prägnanten Sprecher:innenmerkmalen, wie Geschlecht oder Alter auch die Bekanntheit der Stimme bzw. des Sprechenden zu einem frühen Zeitpunkt verarbeitet wird (circa 150 ms nach Stimulusonset: Rinke et al. 2022).
Eine Verzahnung mit den anderen Bereichen ergibt sich, da auch die Arealität bzw. regionale Merkmale als indexikalische Merkmale übertragen werden, die sich wiederum in einzelnen Sprachgemeinschaften aggregieren. Insbesondere Teilbereich C setzt sich mit der Makroebene auseinander und kann von den Ergebnissen profitieren.
Der Erwerb sprachlicher Repräsentation und Möglichkeiten zur Intervention
Die Projekte des Teilbereichs B befassen sich mit der Stabilität und Dynamik sprachlicher Repräsentationen im Bereich des Spracherwerbs. Die verschiedenen Projekte legen dabei ihren Fokus sowohl auf den typischen und atypischen Erwerbsverlauf als auch auf die Entwicklung in den Kontexten der Mehrsprachigkeit und des Dialekterwerbs; die Projekte berücksichtigen damit sowohl Perspektiven der Mikro- wie der Makroebene. Simone Nopens widmet sich dem Erwerb des mittelfränkischen Tonakzents im Erstspracherwerb sowie den damit verbundenen Abbautendenzen. Alexia Despina Leonidou untersucht die Herausforderungen des Vokalerwerbs in mehrsprachigen Kontexten (Italienisch-Deutsch) und ob in einem solchen Kontext der Vokalerwerb durch gezielte Unterstützung erleichtert werden kann.
Francie Höhler befasst sich in ihrem Projekt mit der Frage, wie Kinder die typische Wortstruktur des Deutschen, die aus betonter und unbetonter Silbe besteht, erwerben und wie sich deren Aussprache im Erwerbsverlauf verändert: Ein Großteil der Wörter des Standarddeutschen ist trochäisch strukturiert, d.h. das Wort besteht aus zwei Silben, bei denen die Betonung auf der ersten Silbe liegt (Initialakzent: z. B. FLA-sche). Der Vokal der unbetonten Silbe ist das Schwa bzw. der mittlere Zentralvokal (orthographisch <e>); er kennzeichnet diese Silbe als Reduktionssilbe und kommt nur in diesen unbetonten Silben vor. Das gesamte zweisilbige Muster, der Trochäus mit der Kombination aus einer Vollsilbe mit folgender Reduktionssilbe, kommt im Standarddeutschen sehr häufig vor (Wiese 2000), wodurch das Schwa für den grundlegenden Rhythmus des Standarddeutschen mitverantwortlich ist. Auch in der Wortbildung spielt es eine wichtige Rolle. So tritt sie in der Pluralbildung auf (Sg. Schwein, Pl. Schweine (zweisilbig, Initialakzent)) oder bei der Adjektivflexion (z.B. Das schöne Haus. (schön: zweisilbig, Initialakzent)) (Wiese 1986).
Gerade weil die trochäische Struktur so häufig vorkommt, stellt sie einen zentralen Gegenstand des Spracherwerbs dar. Kinder stehen vor der Herausforderung, die trochäische Wortstruktur inklusive der Reduktionssilbe nicht nur zu erkennen (Perzeption), sondern sie in den dafür vorgesehenen Kontexten korrekt einzusetzen und anzuwenden (Produktion). Dafür werden entsprechende Repräsentationen angelegt. Ist dies nicht der Fall, kann es zu Verzögerungen im Worterwerb kommen, wie Fallbeispiele aus der klinischen Linguistik zeigen (Kauschke 2018).
Um den Erwerbsverlauf der Reduktionssilbe im frühen Erstspracherwerb des Deutschen aufzuzeigen, wird das Osnabrück-Korpus (Grimm 2007) im Hinblick auf diese Silbenstruktur ausgewertet. Für das Korpus wurden vier Kinder über circa ein Jahr regelmäßig besucht, wobei in Spielsituationen Tonaufzeichnungen angefertigt wurden, die sich dazu eignen, die Entwicklung der Produktion des Reduktionsvokals zu untersuchen. Wörter, die das oben beschriebene zweisilbige Schema mit Initialakzent aufweisen, werden dafür aus dem Korpus extrahiert und anschließend werden die Arten der Abweichung, die in der Produktion der Kinder vorkommen, kategorisiert sowie deren Auftretenshäufigkeit untersucht. Daraus lassen sich Verwendungsdivergenzen zwischen Schwa und Vollvokal ableiten und erkennen, ob es bei diesen Abweichungen präferierte und rekurrente Vokale gibt. Des Weiteren wird gefragt, ob und inwiefern die Zahl der standardsprachlichen, d.h. korrekten, Produktionen zunimmt. In einem weiteren Schritt werden mehrsilbige Wörter mit Reduktionssilbe in mittiger Position nach dem gleichen Prinzip analysiert (z. B. Schmetterling). Anschließend kann verglichen werden, ob es hier zu ähnlichen Produktionsprozessen kommt. Die Daten werden auch mit Bezug auf bestehende Forschung zum Worterwerb interpretiert (Vihmann & Vellemann 2000; Vihmann 2017; Kehoe &Lléo 2003).
Sprachliche Repräsentation (nicht nur) in regionaler Variation
Die Projekte des Teilbereiches C behandeln Phänomene der Makroebene. Dabei geht es vorrangig um die Frage, wie sich Varietäten und Varianten (sprachhistorisch) verändern und in welchem Zusammenhang dieser Sprachwandel mit sprachlichen Repräsentationen steht. Die einzelnen Projekte widmen sich Sprachwandel in verschiedenen linguistischen Bereichen: Phonologie, Grammatik und Semantik.
Auf semantischer Ebene können Wandelprozesse zu Veränderungen der Inhaltsseite sprachlicher Zeichen führen, etwa durch Bedeutungsübertragungen (Metonymisierung und Metaphorisierung). Ziel des Projektes von Maike Park ist es, den komplexen Bedeutungsaufbau und ‑wandel der Positionsverben stehen, sitzen, hängen und liegen anhand von Korpusuntersuchungen nachzuvollziehen.
Auf morphosyntaktischer Ebene können diachrone Umbauprozesse beobachtet werden, die zu Veränderungen der Ausdrucksformen bei sprachlichen Kategorien wie z. B. Modus oder Genus führen (Fleischer & Simon 2013). Immer wieder werden Belebtheit oder Frequenz als Faktoren für solche Veränderungen genannt. Den Einfluss dieser potenziellen Faktoren prüft Christin Schütze mit Hilfe von Akzeptanz- und EEG-Studien bei genus-(in)kongruenten Possessiva. 1Im Deutschen kongruiert das Possessivpronomen der 3. Person Singular mit dem Genus des Possessors (der Vater … sein Auto; die Mutter … ihr Auto). Es finden sich jedoch auch im Standarddeutschen Belege für genus-inkongruente Possessiva, bei denen sich das Possessivpronomen sein auf Feminina bezieht, beispielsweise “die Sache geht seinen Weg” (Duden Grammatik 2016: 275). Gehen synthetische Formen in der Morphologie verloren oder werden stark abgebaut, steht dies oft im Zusammenhang mit dem Umbau hin zu analytischen Formen. Das Projekt von Maria Luisa Krapp untersucht die Dynamik des Modusausdrucks im Konjunktiv in den regionalen Varietäten des Deutschen, um so Faktoren für Ab- und Umbauprozesse auf morphosyntaktischer Ebene bestimmen zu können.
Durch phonologisch-prosodische Anpassungen der großregionalen Dialektverbände an die Schriftsprache sind die modernen Regiolekte entstanden (Ganswindt 2017). Obwohl die Regiolekte heute die wichtigsten und am häufigsten verwendeten Varietäten der modernen deutschen Regionalsprachen darstellen, sind ihre Grenzen nur in wenigen Fällen bekannt (Purschke 2011; Kleene 2020). Milena Gropp beschäftigt sich in ihrem Projekt mit der horizontalen Abgrenzung der deutschen Regiolekte. Der Untersuchungsraum dieses Projekts ist das Bundesland Hessen, das durch seine besondere sprachliche Situation gekennzeichnet ist: In keinem anderen Bundesland Deutschlands liegen so viele Dialektareale auf relativ kleinem Raum nebeneinander. Nach der Dialekteinteilung von Wiesinger (1983) befinden sich auf dem Gebiet des heutigen Bundeslands Hessen die mitteldeutschen Dialekträume Zentral‑, Ost- und Nordhessisch sowie Rheinfränkisch (ein sehr kleiner Teil im Osten Hessens wird außerdem dem Thüringischen zugeordnet) und die niederdeutschen Dialekträume Ost- und Westfälisch im Norden. Mitten durch den im nördlichen Hessen liegenden Landkreis Waldeck-Frankenberg verläuft die Sprachgrenze zwischen dem niederdeutschen und dem mitteldeutschen Sprachraum, die sogenannte Benrather Linie (auch maken/machen-Linie). Dabei fällt die Sprachgrenze im nördlichen Hessen mit den alten Stammesgrenzen zwischen Sachsen und Franken zusammen (Stracke 1909: 250). Diese Stammeszugehörigkeit spiegelt sich heute in einigen Ortsnamen wider: Sachsenberg und Sachsenhausen nördlich der Benrather Linie; Frankenberg und Frankenau südlich der Sprachgrenze. Ob diese Sprachgrenze, die seit über 1000 Jahren besteht, in Zeiten schwindender Dialektkompetenz und hoher Mobilität überhaupt noch eine Relevanz für die Menschen in Hessen besitzt, sollen eine Perzeptionsstudie sowie eine Fragebogenerhebung im Nordhessischen und Westfälischen zeigen. Beim Perzeptionstest sollen Hörer:innen Aufnahmen von Sprecher:innen dialektal und regional verorten. Ergänzend zum Perzeptionstest erhebt der Fragebogen Sprecher:innenurteile über den eigenen Sprachgebrauch sowie Spracheinstellungen. So sollen etwa die Teilnehmenden einschätzen, wie gut sie den Dialekt/das Platt ihrer Heimatregion sprechen können oder wie gut Ihnen der Dialekt/das Platt Ihrer Region gefällt. Diese Ergebnisse können nicht zuletzt in Verbindung mit Teilbereich A betrachtet werden, in dem neurobiologische Evidenzen für areale Distinktionen untersucht werden.
Ausblicke: Was ist sprachliche Repräsentation?
Diese Einblicke haben die Grundstruktur des Marburger Graduiertenkollegs verdeutlicht: Sprachliche Repräsentation wird sowohl mit einem Fokus auf der Mikro- wie auch der Makroebene untersucht, alle einzelnen Projekte werden über einen theoretischen Rahmen miteinander verbunden, indem ein umfassender Begriff sprachlicher Repräsentationen erarbeitet wird, der Elemente der neuronalen Verarbeitung, des Spracherwerbs und der (regionalen) Variation miteinander vereint. Das Vorgehen zeichnet sich somit vor allem dadurch aus, dass ausgehend von der Empirie, ein kohärenter theoretischer Ansatz entwickelt wird, in dessen Zentrum sprachliche Repräsentationen als sprachtheoretischer Zentralbegriff verortet werden, sodass Mikro- und die Makroebene überbrückt werden können. Das langfristige Ziel ist damit eine empirisch fundierte, humanökologisch und anthropologisch plausible Sprachtheorie (Kasper 2020; Hoffmeister 2021). Doch was ist sprachliche Repräsentation in diesem Verständnis? Diese Frage kann hier noch nicht abschließend beantwortet werden. Erste Ansätze verfolgen den Weg, mentale Repräsentation als den Verarbeitungsprozess von Eindrücken (Inputs) zu Ausdrücken (Outputs) zu verstehen. Eine Arbeitsdefinition bzw. eine Operationalisierung im Hinblick auf sprachliche Repräsentationen könnte damit folgendermaßen lauten: Sprachliche Repräsentationen sind die (kognitiven) Entsprechungen sprachlicher Einheiten (linguistic units) in Rezeptions- und Produktionsprozessen und stellen eine Vermittlungsinstanz zwischen lebensweltlichen Eindrücken und beobachtbaren Ausdrücken dar. Die Aufgabe der Teilprojekte im Graduiertenkolleg besteht nun darin, die entsprechenden Daten zu liefern, damit die Vermittlung zwischen lebensweltlichen Eindrücken und beobachtbaren Ausdrücken theoretisiert werden kann.
Literatur
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Gropp, Milena, Hoffmeister, Toke, Höhler, Francie, & Rinke, Paula. 2023. Mikro- und Makrobeschreibungen sprachlicher Repräsentationen. Ein- und Ausblicke des Marburger Graduiertenkollegs. In: Sprachspuren: Berichte aus dem Deutschen Sprachatlas 3(4). https://doi.org/10.57712/2023-04