Der Mehrwert jedes (Atlas)Projekts ist es nicht, Selbstzweck zu sein, sondern Grundlagenforschung zu leisten, die zum einen Anknüpfung zu Nachbardisziplinen ermöglicht und zum anderen sowohl spezifischer Forschung als auch allgemeinen Forschungsfragen zuarbeitet. Entsprechend überraschend ist es, dass die meisten Atlanten als publiziertes Endprodukt ausschließlich Karten liefern. Dabei sind Karten ja bereits selbst eine Interpretation der Daten und eine Analyse der im Projekt erhobenen Strukturen. Wichtig ist es daher, neben diesen Karten – die vor allem für Laien einen niedrigschwelligen Zugang zu dialektaler Variation liefern – auch die Kerndaten zur Verfügung zu stellen und der Fachgemeinschaft offen zu legen.
Dieses Blankziehen des Open Data Gedankens ist natürlich verbunden mit vielen Ängsten. Man macht sich damit angreifbar und die Absolutheit der finalen Interpretation, wie sie etwa eine Karte suggeriert, wird abgeschwächt und vielleicht sogar infrage gestellt. Auch die Angst, dass jemand anderes einem mit Analysen (für die man irgendwann einmal Zeit zu finden hofft) zuvorkommen kann, wenn man die eigenen Daten veröffentlicht, ist ein nachvollziehbarer Grund, wieso viele Projektdaten noch lange nach Projektende nicht (oder nur auf persönliche Nachfrage) zugänglich gemacht werden. Ein weiterer Punkt, der meist übersehen, aber nicht zu unterschätzen ist, ist der zeitliche Aufwand, den es kostet, die eigenen Daten für eine Veröffentlichung aufzubereiten. Datensätze müssen bereinigt und vorzeigbar gemacht werden. In den letzten Jahren hat dank technischer Innovationen ein Umschwung im Umgang mit Projektdaten stattgefunden, der alle Disziplinen mehr oder weniger stark verändert und ganz neue Möglichkeiten eröffnet, denn bei allen individuellen Ängsten überwiegt am Ende der unzweifelhafte Gewinn für den wissenschaftlichen Fortschritt.
Ein recht kleines Fach, bei dem man diese Veränderungen gut nachverfolgen kann, ist die Jiddistik. Dieser Sprachspuren-Beitrag ist zum einen eine Art Sittengemälde dieser kleinen Fachkultur, die teilweise generalisierbar ist für die Germanistik und andere philologische Disziplinen. Andererseits ist dies hier eine Werbung für die Veröffentlichung von Projektdaten und für die Möglichkeiten, die uns die Digitalisierung bietet, am Beispiel der jüngsten Veröffentlichung von Daten zu jiddischen Dialekten des 20. Jahrhunderts. Zunächst aber möchte ich ältere Atlasprojekte über jiddische Varietäten und die Probleme, mit denen sie sich rumschlagen mussten, vorstellen.
Schicksale von jiddistischen Atlasprojektdaten
In der Geschichte der sehr jungen Disziplin der jiddischen Linguistik spiegelt sich im Kleinen wider, was wir auch bei größeren Disziplinen finden. Im 20. Jahrhundert gibt es eine Reihe Atlasprojekte zum Jiddischen, von denen ich im Folgenden die einschlägigsten näher vorstellen möchte und anhand derer man gut den generellen Wechsel von einer verschlossenen Fachkultur hin zu einer offenen sehen kann.
Mit seiner am 24.01.1923 bei Ferdinand Wrede eingereichten 609-seitigen Dissertationsschrift Studien zur Geschichte und dialektischen Gliederung der jiddischen Sprache begründet Max Weinreich (1894–1969) eine empirisch gestützte variationslinguistische Beschäftigung mit dem Jiddischen als einer germanischen Sprache. Doch noch in seiner Dissertation äußert er sich skeptisch hinsichtlich der Durchführbarkeit eines jiddischen Atlasprojekts:
(M. Weinreich 1923, Bd. 3: 153; Sperrung im Original)
Ein S p r a c h a t l a s für das Jiddische wird sich wohl in absehbarer Zeit wegen der materiellen Schwierigkeiten und auch infolge der ungünstigen äusseren Verhältnisse im Siedlungsgebiet der jüdischen Massen nicht verwirklichen lassen. Daher ist es auch müssig, Betrachtungen darüber anzustellen, auf welcher Basis solch eine Arbeit durchgeführt werden solle [...]
Doch nur wenige Jahre später, nachdem er sich mit der Gründung des yidisher visnshaftlekher institut (YIVO) 1925 in Berlin quasi sein eigenes Forschungsinstitut schafft, führt er 1928/29 von Vilnius aus Umfragen durch, die zum Ziel haben, die linguistische Variation der jiddischen Dialekte zu erheben. Die Daten dieser Umfragen liegen inzwischen im YIVO-Archiv in New York, welches eine baldige Digitalisierung bereits 2015 in Aussicht gestellt hat (https://vilnacollections.yivo.org/Questionnaires).
In etwa in der gleichen Zeit führt der sowjetische Philologe Mordkhe Veynger (1890–1929) zwischen 1925 und 1929 die ersten dialektologischen Erhebungen auf dem damaligen Gebiet der Sowjetunion durch, ursprünglich mit dem Ziel eines Wörterbuchs. Sein früher, für Spekulationen sorgender Tod 1929 setzt diesem Vorhaben jedoch ein jähes Ende. Leyzer Vilenkin (1894–1985) beschreibt in einem 2000 erschienenen Artikel die Situation der Daten unmittelbar nach Veyngers Tod:
(Vilenkin 2000: *3)
Veynger's spacious office: Along the walls—cabinets filled with cards. Raw material for the great Yiddish dictionary. The secretary says that there are already over a quarter of a million cards. Copied from modern Yiddish literature, partly from older, from specialized literature. Raw material, unprocessed.
Chaim Holmshtok (1882–?1942) wird damit, betraut das Wörterbuch weiterzuführen, und veröffentlicht 1935 in Minsk einen ersten Probeband. 1936 plant er in Birobidzhan, Hauptstadt der vom Sowietregime gegründeten Jüdischen Autonomen Oblast, eine große jiddische Sprachkonferenz. Weder die Konferenz, noch sein Vortrag (Uniformatsye fun di yidishe dialektn „Über die Vereinheitlichung der jiddischen Dialekte“) finden jedoch statt, da Holmshtok im Zuge des sogenannten Großen Terrors verhaftet wird. Er stirbt (vermutlich) 1942 in einem Gulag. Die Materialien des Wörterbuchs sind seither verschollen (vgl. Burko 2019: 151).
1931 konnte allerdings Vilenkin noch den yidisher sprakhatles [sic!] fun sovetn-farband (Jiddischer Sprachatlas der Sowjetunion) herausbringen, welcher auf Veyngers Daten fußt und aus 74 Karten zu phonologischen Strukturen besteht (ein seltenes Exemplar des Atlas findet sich in der Bibliothek des DSA und wurde erst durch die Digitalisierung der UB Marburg 2010 einer breiten Öffentlichkeit zugänglich; http://archiv.ub.uni-marburg.de/eb/2010/0361/). Die Grundkarte dieses Atlas zeigt, dass Veynger ein dichtes Ortsnetz als Grundlage hatte. Die Isoglossen- und Leitformenkartierung der einzelnen Strukturen bringt jedoch eine nicht zu leugnende Unschärfe in diesen verloren gegangenen Datenschatz.
Der deutsche und der sowjetische Faschismus und Antisemitismus zerstören neben Menschenleben auch die gesamte europäische Forschungsstruktur der Jiddistik und lösen das ursprüngliche Sprachgebiet des Jiddischen auf. Für die Diskussion pro/contra Open Data kann der Blick auf das tragische Schicksal jiddischer Atlas-Daten uns lehren, dass es nie eine gute Idee ist, wenn nur eine Version der Daten und Quellen existiert. Gerade mit dem Blick auf aktuelle Kriege und klimawandelbedingte Katastrophen generiert Open Data auch Sicherungskopien.
Außerhalb Europas lebt das Jiddische in der Emigration fort und findet v.a. in der chassidischen Ultraorthodoxie einen Raum, in dem in den letzten Jahrzehnten ganz neue jiddische Dialekte entstanden sind. In der säkularen Welt ist man bereits seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert entweder bemüht, die germanische Sprache Jiddisch zugunsten der neuen Kontaktsprachen aufzugeben oder zumindest zu standardisieren, um ihm den Status einer „vollwertigen“ Nationalsprache zu verleihen. Nach 1945 verstärken sich diese Tendenzen. Die Dialekte werden als „minderwertig“ stigmatisiert; insbesondere die dem Deutschen nahestehenden Dialekte des Südens, die wiederum besonders prägend für die modernen chassidischen Dialekte sind. Grundlage für die entstehenden Grammatiken des (Standard)Jiddischen sind v.a. Idealisierungen der literarischen „Klassiker“ des späten 19. Jahrunderts wie Mendele Moicher Sforim, Itzhok Lejb Perez und Scholem Alejchem.
Nach dem Holocaust gibt es aber auch eine Reihe von Unternehmungen, die den Anspruch haben, die ehemalige Verbreitung und Variation der jiddischen Dialekte noch anhand der letzten Sprecher und Sprecherinnen, die überlebten, einzufangen. Die meisten dieser Projekte folgen den Prinzipien guter wissenschaftlicher Praxis. Eines sticht allerdings leider sehr negativ heraus; nicht zuletzt, weil es auch dazu diente, die braune Weste des Verfassers, Franz Beranek (1902–1967), weiß zu waschen (vgl. Weiser 2018).
Dieser Westjiddische Sprachatlas von Beranek – die 109 Karten zu lexikalischen und phonologischen Kontexten sind auf regionalsprache.de im SprachGIS einsehbar – sollte nicht ohne die Rezension von Florence Guggenheim-Grünberg (1966) als Gebrauchsanweisung verwendet werden. Zu diesem einerseits kartografisch sehr fragwürdigem und groben Atlas fehlt es gänzlich an Quellen und entsprechend ist auch kein Material erhalten, auf dem diese Karten basieren.
Laut Vorwort des Atlas wurden die Daten in direkten und indirekten Befragungen zwischen 1928 und 1961 in 243 Ortspunkten erhoben, doch es gibt keine näheren Ausführungen zur Methode und Durchführung dieser Erhebungen. Insgesamt macht diese Publikation den unguten Eindruck, dass „die Einfachheit, Klarheit und mühelose Verständlichkeit der einzelnen Kartenbilder“ (Beranek 1965: 1) über eine ungenaue und unklare Datenlage hinwegtäuschen will. Der Westjiddische Sprachatlas ist ein trauriges Beispiel der Nachkriegsgermanistik und zeigt ganz deutlich die Vorzüge einer Fachkultur, die ihre Quellen und Daten teilt und offenlegt.
Aufschlussreich ist hier die Antwort Beraneks auf die bereits erwähnte Rezension von Florence Guggenheim-Grünberg (1966) in der Zeitschrift für Mundartforschung. Hier versucht sich Beranek für die grobe und z.T. fehlerhafte Kartierung seines Atlas zu rechtfertigen, indem er Guggenheim-Grünberg vorwirft, ihm ihre Daten zum Westjiddischen vorenthalten zu haben:
(Beranek 1968: 48)
Vielleicht hätten sich manche Vakua in den Karten vermeiden lassen, wenn die Rezensentin mir die meinerseits erbetene Forschungshilfe nicht versagt hätte. Das nur nebenbei.
Als direkte Reaktion darauf schreibt Guggenheim-Grünberg:
(Guggenheim-Grünberg 1968: 49)
Forschungshilfe: Herr Beranek hat seinerzeit von mir verlangt, daß ich ihm die Resultate meiner Untersuchungen in der Schweiz zur Verfügung stelle, bevor ich dieselben selber publiziert hatte, was ich ablehnte. In welcher Art und Weise er sich derselben bedient hätte, geht aus seinem Atlas hervor; darin ist überhaupt nichts zu finden über die Quellen, die ihm von andern zeitgenössischen Kollegen in Europa bereitwillig zur Verfügung gestellt worden sind, so wenig wie über andere, geschriebene oder gedruckte, zeitgenössische oder historische Informationsquellen, die er benützt hat. Wie man ein solches Verfahren zu beurteilen hat, möchte ich der Einsicht des Lesers überlassen.
Wie aus diesem öffentlich ausgetragenen Streit ersichtlich, verfügte die promovierte Apothekerin Florence Guggenheim-Grünberg (1898–1989) über wertvolle Daten zu westjiddischen Dialekten (nicht nur) der Schweiz. Unter anderem flossen diese in die 56 Karten ihres Atlas „Jiddisch auf alemannischem Sprachgebiet“ (Guggenheim-Grünbergs 1973). Diese Karten sind nun die ersten jiddischen Dialektkartierungen, die Punktkartierungen jeder genannten Variante liefern und keine Isoglossen- und Leitformenkartierung verwenden.
Archiviert sind ihre Quellen und Tonaufnahmen, die die Grundlage für ihre Arbeiten zum Schweizer Jiddisch bilden, im Florence Guggenheim Archiv zur Geschichte, Sprache und Volkskunde der Juden in der Schweiz und zur Genealogie der Surbtalerjuden der israelitischen Cultusgemeinde Zürich, welches 2013 von Zürich ins Staatsarchiv Aargau umzog.
Alle bisher genannten Atlasprojekte erheben keinen Anspruch, das gesamte ost- wie westjiddische Sprachgebiet abzubilden. Jean B. Jofen (1922–2005) legt 1953 mit ihrer Dissertation einen ersten, kleinen, das gesamte ostjiddische Sprachgebiet abdeckenden Atlas vor, der auf Interviews mit jüdischen Einwanderer:innen in New York basiert (Doktorvater ist Uriel Weinreich, Sohn von Max Weinreich). Grundlage sind 67 fragebogengeleitete Interviews zu 191 Wörtern und Ausdrücken. Die Interviews selbst sind m.W. nicht mehr erhalten oder zumindest nicht zugänglich. Ihre Karten mit handgezeichneten Isoglossen sind äußerst grobschlächtig (1964 bringt sie die Karten in etwas besserer Qualität als kleinen Atlas heraus). Dennoch ist der Wert dieser Arbeit nicht zu unterschätzen. Sie zeigt damit nämlich erstmals, dass Uriel Weinreichs „linguistic geography at a distance“ (U. Weinreich 1962: 9) möglich ist. Diese Distanz ist im Fall des Jiddischen nach der Shoah ein doppelter: zeitlich und räumlich. Die Dialekte ihrer Geburtsorte im Gepäck können so in der Nachkriegszeit Migrant:innen wertvolle Gewährspersonen für Sprachatlanten sein (also eine ganz andere Informantengruppe, als die üblichen NORMS und NORFS). Jofens Dissertation ist für Weinreich quasi ein Testlauf für sein Großprojekt: Ein jiddischer Sprach- und Kulturatlas der alten europäischen Dialekte auf Basis von Interviews mit Jiddisch sprechenden Migrant:innen der Nachkriegszeit: der Language and Culture Atlas of Ashkenazic Jewry (LCAAJ).
Der LCAAJ knüpft an die vom Atlas linguistique de la France (ALF) eingeführten Methoden der direkten Befragung von Sprecher:innen durch Interviewer an, wie sie auch für den Sprachatlas der deutschen Schweiz (SDS) und den Atlante italo-svizzero/Sprach- und Sachatlas Italiens und der Südschweiz (AIS) verwendet wurde, mit denen Uriel Weinreich (1926–1967) und seine Frau, die Ethnologin Beatrice (Bina) Silverman Weinreich (1928–2008), spätestens während ihres Aufenthalts in Zürich 1949/50 in Kontakt gekommen sind (vgl. Schäfer 2020). Das Zürcher Erlebnis ist wohl der entscheidende Moment, der die Idee für den LCAAJ aufkeimen läßt. In einem Brief vom 19. Februar 1950 an Joshua Fishman schreibt U. Weinreich:
(Brief von U. Weinreich an J. Fishman 19.02.1950)
Our appetites for language and folklore have grown voraciously, and I am afraid that we will not get away with less than a Yiddish language and folklore atlas.
In den Jahren darauf entwickelte U. Weinreich ein umfangreiches Fragebuch für direkte Erhebungen mit Migrant:innen in v.a. New York, aber u.a. auch in Mexiko, Kanada oder Israel. Nach einigen Voruntersuchungen (darunter die bereits genannte Dissertation von Jofen 1953) wurden zwischen 1959–1972 knapp 1.000 Informant:innen interviewt und damit das umfangreichste Datenset der alten jiddischen Dialekte geschaffen.
Die trainierten Interviewer:innen fertigten parallel Fieldnotes zu den Interviews an, in denen die Antworten der Gewährspersonen in einer speziellen phonetischen Transkription auf Basis des Internationalen Phonetischen Alphabets (IPA) dokumentiert wurden. Die ungewöhnliche Form des Transkriptionssystems sollte die Übertragung der Daten in ein Computersystem erleichtern und war daher auf die 47 Symbole der IBM-Tastatur begrenzt (Burko 2019, 368). So sieht z.B. die Übersetzung von Frage 10 auf Seite 176 des Fragebuchs „he didn’t want to marry her“ bei einem im ukrainischen Bar geborenen Informanten (ID 49272) folgendermaßen aus:
3ROD N1Z+ G81VOLT M1T IR XO,S1NUB+
Dies entspricht:
er=od niʒ givolt mit ir xosin=ubn
wörtl. „er hat nicht gewolt mit ihr Hochzeit haben“
Um die Fieldnotes im Nachhinein überprüfen zu können, wurden zeitgleich Tonaufnahmen der Interviews angefertigt; im eigentlichen Zentrum standen aber die für die computationelle Weiterverarbeitung optimierten Mitschriften (vgl. U. Weinreich 1964). Alles an dem Projekt war darauf angelegt, in digitaler Form archiviert und analysiert zu werden.
Das Schicksal dieses Großprojekts war leider gebunden an das Schicksal des Projektleiters. Nach Uriel Weinreichs frühen Tod 1967 übernahm die Projektverantwortung Marvin Herzog (1927–2013), der 1965 im LCAAJ-Projekt zum Jiddischen in Nordpolen promoviert hatte.
Es dauerte bis in die 1990er Jahre, dass drei gedruckte Atlanten aus dem Projekt veröffentlicht wurden (Herzog et al. 1992, 1995, 2000); von denen aber nur der letzte Band Karten zu linguistischen Phänomenen liefert. Diese Karten sind wieder grobschlächtig und geben nur in seltenen Fällen Ortsvarianten an. Digital einsehbar waren diese Karten kurzzeitig im lizenzpflichtigen DeGruyter Treasury of Linguistic Maps Online.
1990 promovierte Ulrike Kiefer bei Marvin Herzog mit einer Arbeit zum Wortgeographischen Kontinuum zwischen Deutsch und Jiddisch. In 84 Karten zu Einzellexemen stellt sie Daten des Wortatlas der Deutschen Umgangssprachen (Eichhoff Bd. 1: 1977, Bd. 2: 1978), Wortgeographie der hochdeutschen Umgangssprache (Kretschmer 1969) und des dtv-Atlas: Deutsche Sprache (König 1978) in Vergleich mit Daten des LCAAJ. Auch wenn hier die hinter den Karten stehenden Daten fehlen und unklar ist, ob sie die Audioaufnahmen, die Fieldnotes oder die Computerdaten (s.u.) verwendet, nutzt sie zumindest Punktkartierungen.
Kiefer initiierte mit der informatischen Unterstützung von Robert Neumann in den frühen 2000er Jahren mit dem Projekt Evidence of Yiddish documented in European societies (EYDES, siehe http://www.eydes.de) einen Versuch, die Tonaufnahmen des Projekts digital zu veröffentlichen und in einem Crowdsourcing-Ansatz zu transliterieren. Auch ein Online-Kartierungstool (WebGIS) wurde in diesem Rahmen entwickelt. Dieses ambitionierte digitale Vorreiterprojekt, finanziert durch das Land NRW und den Förderverein für Jiddische Sprache und Kultur e.V. Düsseldorf, ist zu einem Beispiel geworden, von dem spätere Digitalisierungsprojekte lernen konnten und können.
Insbesondere die fehlende institutionelle Anbindung und Grundsicherung hat dazu geführt, dass die Seite inzwischen kaum mehr voll funktionsfähig ist, da es keine Pflege und Aktualisierung gab. Das Kartierungstool etwa funktioniert bereits seit den 2010ern nicht mehr. Die Tonaufnahmen sind in nur sehr geringer Audioqualität verfügbar und nur ein Bruchteil davon ist sinnvoll durchsuchbar, weil die einzelnen Interviews in Minutenabschnitte zerschnitten sind. Dies kann man natürlich niemandem zum Vorwurf machen, denn es repräsentiert einfach den Stand der Technik aus dieser Zeit.
Mein Kritikpunkt an diesem für damalige Verhältnisse überaus groß gedachten Projekts mit Online-GIS und einem Stream der Tonaufnahmen im Browser mit parallel ablaufenden Transliterationen ist, dass dieser riesige technische Aufwand die eigens für die digitale Verabreitung angelegten Fieldnotes ignoriert. Es wäre technisch einfacher und langfristig stabiler gewesen eine Textdatenbank aufzubauen, statt mit Audio und Webanwendungen vielleicht innovativ, aber nicht nachhaltig zu denken.
Diese schriftlichen Projektdaten des LCAAJ selbst blieben bis zu Marvin Herzogs Tod unter Verschluss. 2013 gingen sie an die Columbia University, wo es der engagierten Bibliothekarin Michelle Chesner zu verdanken ist, dass sie in den vergangenen 5 Jahren zugänglich gemacht wurden. Zunächst wurden die schriftlichen Quellen eingescannt und mit den IDs der Interviews in eine kleine Datenbank eingepflegt. Anschließend wurden auch die Tonaufnahmen noch einmal neu und hochauflösend digitalisiert. Beides wurde auf Seiten der Columbia University Libraries veröffentlicht (Fieldnotes und Notizbücher von U. Weinreich: https://dlc.library.columbia.edu/lcaaj; die Tonaufnahmen: https://dlc.library.columbia.edu/time_based_media/).
Die im Rahmen des frühen LCAAJ am IBM Watson Scientific Laboratory der Columbia Universität entstandenen Lochkarten sind verschollen. Allerdings fanden sich im Nachlass des LCAAJ Ausdrucke der Computerdaten, die inzwischen auch vom Team um Michelle Chessner eingescannt und mittels OCR re-digitalisiert wurden (https://dlc.library.columbia.edu/lcaaj?f%5Blib_format_sim%5D%5B%5D=printouts).
Von 2017 bis 2022 habe ich mit diesen Fieldnotes im Rahmen des Projekts Syntax of Eastern Yiddish Dialects (SEYD) gearbeitet. Da dieses von sowohl privaten (Thyssen Stiftung) als auch öffentlichen Geldern (BMBF) finanzierte Projekt ohne die Öffnung und Digitalisierung der Daten durch die Columbia University unmöglich gewesen wäre, ist es eine Selbstverstädlichkeit, dass nun die Daten des SEYD-Projekts auf den Servern der Columbia University frei verfügbar sind (Schäfer 2022 = https://academiccommons.columbia.edu/doi/10.7916/d8-nc5d-ep60).
Das Repositorium des SEYD-Projekts
Das Repositorium des SEYD Projekts (Schäfer 2022) bündelt die im Projekt generierten Kerndaten mit Transliterationen von 141 Übersetzungsaufgaben und Suggestivfragen auf Basis der LCAAJ-Fieldnotes. Darüber hinaus liefert es linguistischen Annotationen und 323 Kartierungen dieser Annotationen zu ausgewählten linguistischen (nicht nur syntaktischen) Phänomenen. Die Daten sind sortiert nach den Kürzeln der einzelnen Fragenummern im Fragebuch. Die Transliterationen und Annotationen liegen als einfache kommagetrennte (.csv) Tabellen vor. Zu jedem Satz gibt es wiederum eine einfache Textdatei (.rtf), in der die Annotationen aufgeschlüsselt sind. Die Kartierungen sind sowohl als statische Bilddateien (.png) als auch in geographische Informationssysteme einbindbare Formate (shapefile, GeoJSON) verfügbar. Eine Erklärung des strukturellen Aufbaus des Repositorium und alle Karten sind in einer Indexdatei gebündelt, die in diversen Formaten vorliegt (.pdf, .epub, .tex, .md, .html).
Daneben gibt es einen Ordner mit einer Browseranwendung, in der sich alle Karten anzeigen und überblenden lassen und die auch auf https://schaeferlea.github.io/SEYD-WEBMAPS/ nutzbar ist. In diesem WebGIS gibt es auch die Möglichkeit über einen Layer direkt in die Tonaufnahmen der Columbia Libraries für die einzelnen Orte zu springen.
Das Repositorium beinhaltet nur die Transliterationen und deren Annotationen (inkl. deren Kartierungen). Die darüber hinausgehenden Analysen des Materials sind in Zeitschriften und Sammelbänden sowie der abschließenden Monographie (Schäfer vsl. 2023) veröffentlicht. Während also die Transliterationen die Arbeit mit den Daten der Fieldnotes für zukünftige Arbeiten erleichtern, machen die Annotationen die publizierten Analysen transparent, überprüfbar und widerlegbar. Zugleich liefern die Karten einen einfachen, auch für linguistische Laien niedrigschwelligen Zugang zu den Materialien und der Arealität der historischen ostjiddischen Dialekte des 20. Jahrhunderts.
Eine sehr geschätzte Kollegin meinte neulich zu mir, dass man irgendwann an den Punkt kommt, wo ein Projekt erwachsen ist und man es getrost auch einmal alleine draußen spielen lassen kann. Das sich nun nach der Veröffentlichung der Daten einstellende Gefühl kommt diesem Bild tatsächlich recht nahe und ich bin sehr gespannt, was aus diesen Daten nun wird, da sie jedem und jeder zur Verfügung stehen. Ein deutlich angenehmeres Gefühl, als alles auf einer Festplatte verstauben zu lassen.
Fazit: Keine Angst vor Open Data!
Dieser kurze Ritt durch die Geschichte jiddischer Atlasprojekte hat gezeigt, dass die Verfügbarmachung von Daten aus ganz unterschiedlichen Aspekten zu befürworten ist. Man muss selbstverständlich die Schwierigkeiten in Rechnung stellen, die sich früher bei der Archivierung und Dokumentation von Atlas-Projekten ergaben. Manche sind damit geschickter/sorgfältiger umgegangen als andere. Wir haben an verschiedenen sowohl Negativ- als auch Positivbeispielen implizit sehen können, was für Vorteile offene Daten bringen:
- Open Data ist eine klare Sicherung und Demokratisierung von Wissensbeständen.
- Offene Daten fördern den wissenschaftlichen Diskurs und unterstützen ein nachhaltiges wissenschaftliches Arbeiten.
- Damit erhält Forschung eine klare Dynamisierung; im Gegenzug blockieren verschlossen gehaltene Daten den Erkenntnisgewinn.
- Nicht zuletzt ermöglicht die Verfügbarkeit von Daten die grundlegende Überprüfung von Axiomen der modernen Wissenschaft: Transparenz, Nachvollziehbarkeit, Reliabilität und Objektivierbarkeit von Forschungsergebnissen.
… oder wie es Leonard Nimoy – im übrigen Sohn jiddischsprachiger Migranten – sagte „the more we share, the more we have“.
Literatur
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Burko, Alec Eliezer (2019). Saving Yiddish: Yiddish Studies and the Language Sciences in America, 1940–1970. Dissertation: The Jewish Theological Seminary of America.
Guggenheim-Grünberg, Florence (1966). Rezension von Beranek (1965). In: Zeitschrift für Mundartforschung 33, 353–357.
Guggenheim-Grünberg, Florence (1968). Reaktion auf Beraneks Reaktion auf Guggenheim-Grünberg (1966). In: Zeitschrift für Mundartforschung 35.2, 148–149.
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Diesen Beitrag zitieren als:
Schäfer, Lea. 2023. Open Data in der jiddischen Dialektologie. Sprachspuren: Berichte aus dem Deutschen Sprachatlas 3(2). https://doi.org/10.57712/2023-02